Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
angebracht, wenn Ria noch etwas anderes von ihrem Papa hätte als nur Kummer, Leid und Schmerz. Und Claudi … Sie war der süßeste, großherzigste und liebenswerteste Mensch, dem er jemals begegnet war, und er wollte sie nicht verlieren. Aber wenn sie sich für ihn aufschneiden ließ, würde er sie vielleicht verlieren.
Es nervte, dass er fortwährend nach einer Lösung für dieses albtraumhafte Problem suchte und keine fand. Es nervte, dass sein ganzes Leben aus dem Takt geraten war und er nichts dagegen tun konnte. Schlimm war auch, dass er Claudis Liebe und die seines Engels oft nicht mehr richtig spüren konnte. Der Schmerz überdeckte alles. In Lebensgefahr schwebte er zwar noch nicht, aber es ging ihm schlecht, sehr schlecht. Deshalb hatte er bereits alle wichtigen Dinge geregelt: sein Testament aufgesetzt sowie eine notarielle Generalvollmacht und eine Patientenverfügung erlassen.
Dem Himmel sei Dank war er endlich auf die Transplantationsliste gesetzt worden und hatte sich schon bis auf 28 von 40 erforderlichen Punkten hochgearbeitet. Er gehörte nun offiziell zu den Anwärtern für ein passendes Ersatzteil. Bei der Gelegenheit hatte er zufällig aufgeschnappt, was seine LTX die Solidargemeinschaft kosten würde. Es handelte sich um einen sechsstelligen Betrag, der ihn fast hintenüberkippen ließ. Aber gut, jetzt gab es kein Zurück mehr, und er musste der Dinge harren, die da kamen.
Hoffentlich kamen sie bald, denn nach monatelanger Isolationshaft wollte er endlich wieder nach Hause. Die weißgetünchten Wände ließen ihn frösteln, die Nasszellen hatten den Charme einer Spülküche und die Schwestern auf dem Gang erinnerten ihn an patrouillierende Wärter, die ihn jederzeit hopsnehmen und in ein Straflager nach Sibirien verfrachten konnten. Wenn er noch länger hier einsitzen musste, würde er einen Vogel bekommen.
Wie zähflüssig die Minuten und Stunden verrannen, wenn man im Krankenhaus lag. Sie verrannen nicht so, wie man sich das für gewöhnlich vorstellte: mit dem Ticktack einer Uhr, dem Auf- und Untergehen der Sonne und dem Hell- und Dunkelwerden des Himmels. Nein, sie brüteten eher dumpf und regungslos vor sich hin. Und wenn es besonders schlimm kam, blieb die Zeit nicht nur stehen. Dann schien sie sogar rückwärts zu laufen und wurde zu einer hirnerweichenden, sinnbetäubenden, bewusstseinszerknüllenden Ewigkeit.
Doch, das Leben in der Anstalt war hart. Unter der Woche ging es ja noch, auch wenn René das Essen zum Halse heraushing, die ärztlichen Visiten ein Witz waren und seine Fragen nach Entlassung regelmäßig abgeschmettert wurden. Aber an den Wochenenden verfiel er endgültig in Depressionen. Weil er Claudi und Mia bitter vermisste, sobald sie das Zimmer verlassen hatten. Weil er an seine schwächliche und sterbende Leber dachte, die bald im Fegefeuer des Verbrennungsofens landen würde. Weil sich am Samstag und Sonntag kein Arzt bei ihm blicken ließ. Weil das Spektakulärste, was er dann erlebte, das Hin- und Herjagen der Karnickel auf der Rasenfläche vor seinem Fenster war. Und weil er hier nicht an Gras kam. Dabei brauchte er das Zeug mehr denn je. Nur wenn er bekifft war, ließen sich die Schmerzen und der Frust ertragen. Dann schob sich die Erleichterung wie ein Schleier zwischen ihn und die Wirklichkeit.
Einmal hatte Nils Wallin ihm eine Transplantierte ins Zimmer geschickt. Aber sie konnte seine Zweifel, nach der Operation wieder ein halbwegs normales Leben führen zu dürfen, nicht mal ansatzweise zerstreuen.
Das schaffte auch der Krankenhausseelsorger nicht, der wenig später auf seiner Bettkante Platz nahm. René war noch nie ein gläubiger Mensch gewesen, denn er hielt Gott für ein Hirngespinst der Gesunden und Glücklichen, und seit er Schmerzpatient war, hatte sich diese Gewissheit noch tiefer in seine Seele gebrannt. Wenn einem die Scheiße bis zum Hals stand, half Beten auch nicht. Also ließ er seinen Ressentiments freien Lauf, als der Mann ihm mit salbungsvoller Stimme eine Predigt über die „Zeit danach“ halten wollte, und sorgte dafür, dass er nach fünf Minuten wieder verschwand.
„Kannst du mir Nia noch mal geben?“, fragte er nach einer Weile.
„Mia“, sagte Claudi. „Sie heißt Mia.“
„Ja … Ich möchte sie gern noch mal im Arm halten. Sie riecht so gut, und sie ist so weich und süß.“
Als Claudi ihm das Baby gerade ins Bett legen wollte, ging die Tür auf, und Nils Wallin betrat den Raum. Während er sich die Hände
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