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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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wo sehr viele Familien mit Kindern lebten. Wir hatten eine 3-Zimmerwohnung zur Miete; ich musste mir also ein Zimmer mit meinem Bruder teilen, was immer problematischer wurde, je älter wir wurden. Er hörte andere Musik als ich und wollte auch mal mit seiner Freundin allein sein. Da störte ein kleiner Bruder natürlich. Ich dagegen war introvertierter als mein Bruder und wollte oft nur meine Ruhe. So flogen des Öfteren die Fetzen – zumindest verbal.
    Michael besuchte die Realschule in Seelze, ich ging ab 1972 auf das Georg-Büchner-Gymnasium in Letter, einem Stadtteil von Seelze. Jeweils ein paar Kilometer mit dem Schulbus oder dem Fahrrad. Meine Schule war damals sehr neu und modern: Sichtbeton, bunt angemalt. Teppichböden in den Klassenzimmern, Physik-, Chemie- und Biologielabore mit Klimakammer, richtige Hörsäle und – damals noch sehr selten – sogar eine Mediathek, mit Büchern, LPs und Video-Kassetten. Gleich neben der Schule schloss sich noch ein Sportzentrum an, mit großer Sporthalle, einer Schwimmhalle und einem Stadion mit Tartanbahn und Flutlicht. Im Sommer 1978 machte ich den 10. Klasse-Abschluss mit der Berechtigung zum Besuch der Oberstufe. Dass ich diesen Abschluss erreicht hatte, sollte sich später als ein großes Glück herausstellen. Natürlich blieb ich weiter auf der Schule, um das Abitur zu erlangen. Damals wollte ich Architekt werden.
    Mal abgesehen von den üblichen Schwierigkeiten und Nervereien, die die Schule uns manchmal bereitete, führten mein Bruder und ich damals ein unbeschwertes Leben. Wir hatten viele Freunde, mit denen wir oft unterwegs waren. Im nahen Ahlemer Wald bauten wir „Butzen“, Baumhäuser, die wir aus Brettern zimmerten. Wir stauten die Bäche im Wald, von den nahen Feldern klauten wir Zuckerrüben und probierten, wie sie schmeckten: Ekelhaft! Wir bauten uns Pfeil und Bogen selbst, spielten Indianer. Oder Fußball auf dem nahen Bolzplatz. Es hat uns weder an Freiheit noch an Möglichkeiten gefehlt. Zu Hause habe ich viel gelesen, Bücher und auch Zeitschriften. Ich interessierte mich für Architektur, Naturwissenschaften, Sport und Technik. Deshalb kaufte ich mir häufig vom Taschengeld die Zeitschrift „hobby“ und die „Autozeitung“. Mein Auto sollte ein Lamborghini Countach sein, 375 PS, 300 km/ h schnell. Was sich Jungs halt so ausmalen! Den Lamborghini hatte ich sogar als Funkfernlenk-Modell. Zuhause, in Hannover.

Schule und Ausbildung
     
    Ab April 1979 sollte es dann für mich in Ostberlin mit der Schule weitergehen, das heißt, ich sollte nun die letzten drei Monate des Schuljahres in einer 11. Klasse „mitlaufen“. Die Idee, mich auf eine Schule für Diplomaten-Kinder zu schicken, wurde nicht verwirklicht. Stattdessen suchten unsere „Betreuer“ für mich die Erweiterte Oberschule „Immanuel Kant“ in Berlin-Lichtenberg aus. Erweiterte Oberschule oder auch kurz EOS wurde in der DDR die Oberstufe genannt, die zum Abitur führte; sie hatte 4 Klassenstufen, von der 9. bis zur 12. Klasse. Die Mitarbeiter der Stasi meinten, dass die „Immanuel Kant“ die beste Schule der DDR sei. Ich habe mich in der folgenden Zeit immer gefragt, was sie damit wohl gemeint haben. Etwa eine Woche vor dem geplanten Schulbesuch wurde ich schon einmal dort dem Direktor vorgestellt. Der erste Eindruck von der Schule hat meine Motivation, in der DDR das Abitur zu machen, nicht gerade vergrößert. Das Schulgebäude lag in der Nähe des S-Bahnhofes Nöldnerplatz in Lichtenberg – also auch in der Nähe der Stasi-Zentrale. Es war ein langgestrecktes Backsteingebäude aus den zwanziger Jahren; ziemlich düster wirkte es auf mich. Ich hatte den Eindruck, es war seitdem noch nicht wieder renoviert worden. Die Ölsockel, die durchgelatschten Dielen, die vergilbten Wände – alles wirkte alt und verbraucht. Im Inneren stand dieser typische Muffgeruch, der in der DDR in allen öffentlichen Gebäuden in die Nase stach. Das Gebäude besaß auch eine Aula, die aber nicht genutzt werden konnte, da sie im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden war. Seit 32 Jahren lag die Aula also so da, und die DDR hatte es über dreißig Jahre lang nicht geschafft, sie wieder aufzubauen! Wo fanden eigentlich Kulturveranstaltungen mit oder für die Schüler statt? Der Schulleiter erklärte mir dann, dass ich zunächst einmal nicht an den Unterrichtsfächern teilnehmen müsse, in denen mir die Grundlagen fehlten. Im Gegensatz zu den DDR-Schülern hatte ich überhaupt keine Russisch-Kenntnisse.

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