Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
sehen!? Diese Aussicht berührte mich zutiefst. In der Schule aber schwieg ich; ich wollte nicht noch mehr zum Außenseiter werden.
Wem sollte ich denn vertrauen? Wem könnte ich überhaupt noch vertrauen im Leben, wenn mich schon mein eigener Vater so hintergangen hatte? Wenigstens ihm konnte ich aber von meinen Problemen mit der „sozialistischen Schule“ erzählen. Er war oft richtig erschüttert über die Dinge, die ich ihm erzählte. Vieles wollte er gar nicht glauben. Er war wohl wirklich zu lange aus der DDR weggewesen. Natürlich machte ich ihm auch immer wieder subtile Vorwürfe, dass er mich in diese Lage gebracht habe.
Auf die Dauer blieb es nicht aus, dass mich auch mal jemand nach Hause zu sich einlud. Ich bleib sehr vorsichtig und misstrauisch. Einmal war es ein Mädel aus meiner Klasse, sehr nett, hübsch. Ich war ja inzwischen auch fast 17, also durchaus auch an Mädchen interessiert. Es war seltsam. Sie erzählte Geschichten, ich glaube, sie war auf Kuba geboren. Ein Diplomatenkind offensichtlich. Auch in Finnland hatte sie mal gelebt. Das Eis soll so toll gewesen sein dort. „War das im Westen auch so?“, fragte sie. Einerseits war sie jemand, die etwas aus meiner Heimat kannte. Andererseits fingen bei mir so ganz leise Alarmglocken an zu läuten. Was soll das hier? Was steckt eigentlich hinter dieser Geschichte? Muss ich Angst haben um meine Sicherheit? Ich war völlig überfordert mit diesen Fragen, mit der Unsicherheit. Im Ergebnis hielt ich lieber Abstand zu ihr. Das hieß natürlich auch, dass meine persönliche Entwicklung extrem gehemmt war. Nichts war normal. Ich konnte nicht aus dieser Rolle raus, als Besonderheit, als bunter Hund durch die Gegend zu rennen. Gleichzeitig versuchte dieser bunte Hund, unsichtbar zu sein. Das konnte nicht gut gehen.
Im Laufe der paar Monate, die ich in der Schule verbringen musste, wurde mir immer klarer, dass ich das Abitur in der DDR wohl vergessen müsste. Es gab immer wieder Dinge, die mir bewusst machten, dass ich auf Dauer überall anecken würde. Die Sonderbehandlung würde irgendwann zu Ende sein. Außerdem war es überhaupt ein unangenehmes Gefühl, ein Sonderfall zu sein.
Mein Entschluss, die Schule zu schmeißen, stand schon fest, als ich am letzten Schultag des Schuljahres vor den Sommerferien noch ein besonderes Erlebnis hatte. An diesem Tag waren alle Schüler uniformiert mit dem sogenannten „Blauhemd“. Dabei handelte es sich um ein blaues Hemd mit dem Emblem der FDJ, der „Freien Deutschen Jugend“ auf dem linken Oberarm. Der einzige Schüler, der ein anderes Hemd anhatte, war ich. Die Mitgliedschaft in der sogenannten „Kampfreserve der Partei“ (gemeint ist natürlich die SED) war für jeden Schüler der Erweiterten Oberschule obligatorisch. Eine Weigerung hätte zumindest zu erheblichen Problemen in der weiteren Berufskarriere geführt. Es ist auch die Frage, ob man überhaupt die EOS hätte besuchen dürfen, ohne Mitglied der FDJ zu sein. Als Abschlussveranstaltung und Abschied in die Ferien wurde nun ein Fahnenappell durchgeführt. Die Schüler versammelten sich auf dem Schulhof und stellten sich brav und ordentlich in einem Viereck auf. Auch so etwas wäre in meinem früheren Gymnasium undenkbar gewesen. Während die Nationalhymne der DDR erklang (singen war schon seit vielen Jahren verboten wegen des „anstößigen“ Textes vom „Deutschland einig Vaterland“), wurde die Fahne der DDR an einem Fahnenmast empor gezogen. Der Schuldirektor hielt eine Rede, in der er die sozialistischen Errungenschaften im Allgemeinen und die an seiner Schule im Besonderen hervorhob. Danach wurden alle Schüler in die Ferien entlassen – für mich nach drei Monaten EOS der Abschied von dieser Schule und dem Traum, das Abitur zu machen.
Auch mein Bruder schmiss im Sommer die Ausbildung im Baukombinat. Er verweigerte sich einfach, weil er das Gefühl hatte, dass er mit der Ausbildung nur denen in die Hände spielte, die ihn überzeugen wollten, in der DDR zu bleiben. Es war ja schon eine ganze Zeit ins Land gegangen, und er saß da fest und es passierte nichts, nichts, was ihn seiner, unserer Heimat näher gebracht hätte.
Was sollte jetzt aber beruflich aus mir werden? Nicht nur, dass ich in diesem Land eingesperrt war, auch meinen Traum zu studieren, Architekt zu werden, konnte ich vergessen. Das Loch, in dem ich steckte, wurde immer tiefer. Mir war schon bald alles egal. Mein Vater kam auf die Idee, vielleicht „irgendetwas mit
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