Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
nicht in diesem Haus, sie betreuten es nur und führten den Haushalt ehrenamtlich. Sie waren schon längst im Rentenalter, wir haben sie als völlig überzeugte Alt-Kommunisten erlebt. Ihre eigentliche Wohnung befand sich in Berlin-Pankow. Diese Adresse durften meine Eltern dann als Absender benutzen. Das war ein Alleingang der Schwarzers, denn die Stasi-Mitarbeiter machten ein großes Theater, als sie davon hörten. Alles sollte geheim bleiben. Konspiration! Der Klassenfeind ist wachsam!
Meine Mutter schrieb also ihren Eltern nach Ahlbeck und benutzte auch die vorgegebene Legende, wobei wir uns sicher waren, dass sie uns nicht glauben würden. Tatsache war jedoch: Wir waren ab jetzt in der DDR. Bald würden wir die Eltern meiner Mutter auch besuchen können. Mein Vater schrieb folgenden Brief an seinen Bruder Günter und dessen damaliger Verlobter Ingrid:
Berlin, am 4.2.1979
Lieber Günter und Ingrid!
Ihr werdet sehr überrascht sein, Nachricht aus Berlin von mir zu erhalten. Wir haben ja schon manchmal angedeutet, dass wir einmal zurückkommen werden. Nun haben wir es wahr gemacht.
Auf unseren vielen Urlaubsfahrten hierher hatte ich mich nach Möglichkeiten für eine Tätigkeit für mich erkundigt. Diese Rückkehr musste jetzt so plötzlich erfolgen, weil bei den Behörden und im Betrieb die Erkundigungen bekannt geworden sind und zu Jahresanfang existenzgefährdend wurden.
Wir werden in Berlin wohnen. Bis wir eine Wohnung haben, wohnen wir bei Familie Gerhard Schwarzer, 110 Berlin-Pankow, Zillertalstr. 17. Das ist im Augenblick unsere Adresse. Wir sind in Hannover abgefahren, wie wir es im Urlaub immer taten. Der eigentliche Umzug erfolgt in den nächsten Tagen durch das Transportunternehmen DEUTRANS aus der DDR. Zurzeit gibt es noch eine Menge hier zu erledigen. Wenn alles einigermaßen geordnet ist, werden wir Euch, wenn möglich, auch bald besuchen. Der erste Besuch soll nach Ahlbeck gehen.
Vor allen Dingen brauchen wir erst neue Ausweise, ein neues Kennzeichen und Papiere für den Wagen und neue Fahrerlaubnisse für uns 3, wofür Charlotte und ich die Kontrolluntersuchung schon hinter uns haben.
Wir hoffen Euch bald zu sehen. Schreibt bitte, wann es möglich wäre. Wenn wir hier eine Wohnung haben, werdet Ihr uns sicher auch bald besuchen. Alles andere dann mündlich.
Herzliche Grüße
Eure Charlotte, Armin, Michael und Thomas
Und das sollte uns jemand glauben… Aber wir hatten keine andere Wahl, als das Stasi-Spiel mitzuspielen. Irgendwann im Februar erhielten meine Eltern, Michael und ich dann die blauen DDR-Personalausweise. Wir haben sie angenommen, um uns überhaupt außerhalb der Wohnung bewegen zu können. Auffällig bei diesen Ausweisen war die Adresse „Scharnweberstraße 8“ in Berlin, die es zwar gab, die wir aber nie gesehen haben. Es kam später zu seltsamen Situationen, wenn wir nach unserer Postleitzahl gefragt wurden und keine richtige Antwort geben konnten, denn sie stand nicht im Ausweis. Wir mussten uns immer schnell eine annähernd wahrscheinliche Zahl ausdenken. Noch etwas fiel uns auf: Waren diese Papiere vielleicht schon viel länger für uns vorbereitet gewesen? Das Ausstellungsdatum war jedenfalls ein oder zwei Jahre zurückdatiert, 1977 oder 1978, ich weiß es nicht mehr genau.
Nun durften wir uns auch freier bewegen, mal nach Ost-Berlin reinfahren. Aber es war anders als früher, wenn wir meinen Vater auf Dienstreise nach Berlin begleitet hatten: Damals konnten wir am Abend immer wieder zurück nach Westberlin… Da wir unser Auto behalten durften, erhielt es jetzt ein DDR-Kennzeichen. „IG 62-31“ kann ich noch auf alten Fotos entziffern. Das war dann schon sehr auffällig, so ein fast neuer, recht großer West-Wagen mit DDR-Kennzeichen. In den nächsten Monaten ist es schon hin und wieder vorgekommen, dass die Antenne abgeknickt war, dass an der Seite plötzlich ein 1-2 Meter langer Kratzer war oder ein Nebelscheinwerfer demoliert. Es war eben für manche eine Bonzenkiste. Für uns war der „Audi“ aber ein kleines Stück Heimat, eine Reminiszenz an unser früheres Leben, ein kleiner Gruß von „dort“. In diesem Moment war er das einzige, was uns geblieben war. Er vermittelte uns ein kleines Restgefühl von Geborgenheit in dieser feindlichen Welt, obwohl wir bald davon ausgingen, dass er von der Stasi verwanzt worden war. Wann immer der „Audi“ in die Werkstatt musste – sei es für den Ersatz der Nebelscheinwerfer oder für eine Durchsicht –,
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