Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
kam ein Stasi-Mann, holte das Auto ab und brachte es uns nach einigen Tagen wieder. Die Ersatzteile besorgte die Stasi im Westen. Ein absurder Service, von heute aus betrachtet. Damals erschien es uns normal: Wir, zumindest meine Mutter, mein Bruder und ich, wollten ja im Westen leben! Die Werkstatt (War es eigentlich eine Stasi-Werkstatt?) wies uns auch darauf hin, dass unser Audi 100 in einem Detail nicht den DDR-Vorschriften entsprach: Hinter jedem Rad hatte ein Gummi Schmutzfänger zu hängen. Die Werkstatt rüstete das nach. Schöner war unser „Audi“ dann aber auch nicht.
Noch im Februar fuhren wir zu meinen Großeltern nach Ahlbeck. Wir wollten sie beruhigen, ihnen zeigen, dass es uns zumindest gesundheitlich relativ gut ging. Meine Mutter freute sich auf ihre Eltern, meinem Vater merkte man an, dass er nicht entspannt war, dass er lieber in Eichwalde geblieben wäre. Er wirkte schon auf der Fahrt nervös und unruhig. Auch in den weiteren Monaten fuhr mein Vater nicht gern zu seinen Schwiegereltern; er hatte natürlich ein besonders schlechtes Gewissen, denn er hatte uns schließlich in diese furchtbare Situation gebracht.
Es war eine seltsame Fahrt. Ganz anders als früher die Urlaubsfahrten. Eigentlich war uns Usedom ja sehr vertraut – das Haus meiner Großeltern, die Nachbarn, der Weg zum Strand, die wenigen, im Sommer immer überfüllten, Restaurants, der Kiefernwald hinter dem Strand, die Schilder, die die Grenze nach Polen markierten. Wie würde es jetzt dort sein? Ahlbeck war ja fast ein Dorf, wir waren dort sehr bekannt. Der Westbesuch, der jeden Sommer kam. Nun fuhren wir plötzlich mit Ostberliner Autokennzeichen dort vor. Das würde auffallen. Es fiel auf, natürlich.
Wir waren ja bisher immer im Sommer dort gewesen, im Juli oder August, mit Sonnenschein, Urlauber-Trubel, Kindergeschrei. Es war Leben dort. Ein Strand sieht auch im Westen nicht anders aus. Jetzt, im Februar, mitten im tiefsten Winter, wirkte Ahlbeck allerdings ungeheuer trostlos. Noch dazu in diesem Jahrhundert-Winter.
Eine Woche wollten wir in Ahlbeck bleiben, um meine Großeltern irgendwie zu beruhigen und die Situation, soweit es ging, zu erklären, ohne die Wahrheit zu sagen. Ein Eiertanz. Besonders mein Vater wurde sehr frostig empfangen. Richtig geglaubt haben meine Großeltern seine Erklärungen auch nicht, aber auch sie haben nicht weiter nachgefragt. Wer weiß, was sie sich damals gedacht haben? Dass mein Vater die Ursache war, spürten sie auf alle Fälle. Immer war er es, der entschieden hatte: Damals, 1957 die Flucht in den Westen, nun, 22 Jahre später, die überstürzte Rückkehr. Wie wir später hörten, ging in Ahlbeck das Gerücht um, meine Eltern hätten im Westen irgendwelche Unterschlagungen begangen und wären deswegen vor einer Verhaftung geflüchtet. So etwas wie Spionage lag wohl außerhalb der Vorstellungskraft in diesem Dorf. Wir fühlten uns auf jeden Fall sehr unwohl. Und dann mussten wir auch noch länger bleiben als geplant. Es fielen solche Schneemassen, dass alle Wege zurück nach Berlin eine Woche lang unpassierbar waren.
So viel Schnee habe ich bis dahin und später auch nie wieder gesehen. Ein paar Tage lang war unser Auto, das bei meinen Großeltern auf dem Hof stand, jeden Morgen bis zum Dach eingeschneit, jeden Tag buddelten wir es aus. Das hielt wenigstens ein bisschen warm. Denn im Haus meiner Großeltern gab es nur zwei Kachelöfen. Im Sommer war uns Jungs das natürlich nicht weiter aufgefallen. Zu Hause in Hannover hatten wir eine Gasheizung. Hier mussten wir Kohlen schleppen. Jeden Tag brauchten wir vier Eimer. Tagelang waren minus 20 Grad. Aber auch Kohlen schleppen hält warm. Das morgendliche Aufstehen war aber der reinste Horror. Denn da war noch gar nicht geheizt. Und auch nach dem Anheizen dauerte es 1-2 Stunden, bis die Öfen wirklich strahlten. Die Schneekatastrophe hatte aber auch ihre Reize, als der Schneesturm nachgelassen hatte. Gelegenheit für uns, meterhohe Schneewände und Verwehungen anzuschauen. Wie in einem Märchenfilm. Und wir konnten das erste Mal auf der Ostsee spazieren gehen; bis zum Horizont war sie zugefroren. An eine Flucht auf diesem Weg war aber überhaupt nicht zu denken. Denn es war eigentlich kein Spaziergang, sondern eher Kletterei, da sich die einzelnen Eisschollen übereinander geschoben hatten und dann zusammengefroren waren.
Nach zwei Wochen Aufenthalt kehrten wir wieder in unser Quartier in Eichwalde bei Berlin zurück. Es hatte sich
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