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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Dort wurde Russisch schon ab der 5.  Klasse als erste Fremdsprache gelehrt. Das hätte ich niemals aufholen können! Ich hatte wie fast alle Schüler im Westen als erste Fremdsprache Englisch, als zweite Fremdsprache dann Latein, was in der DDR aber kaum gelehrt wurde. Fremdsprachen waren nicht unbedingt meine Stärke, da erschreckte mich dann die Bemerkung der Stasi-Leute doch sehr, dass ich, wenn ich später studieren wollte, Russisch noch würde nachholen müssen, weil das so üblich und notwendig wäre. Da ging es schon los mit den Einschränkungen! Ich ließ das alles aber trotzdem zunächst einmal so über mich ergehen. Das Fach Staatsbürgerkunde sollte ich mir erst einmal als Gast ansehen. Es wurde festgelegt, dass ich ab dem 1. April 1979 den Unterricht besuchen sollte.
    Was würde mich nun ab April erwarten? Erst mal täglich mit der S-Bahn von Eichwalde rein nach Ostberlin fahren – wie mein Bruder und mein Vater, die ja auch arbeiten gingen. Wie würden mich die anderen Schüler aufnehmen, mich, den Westdeutschen, der mit seinen Eltern freiwillig in die DDR gekommen war? Würden sie mir meine Legende glauben, dass wir wegen der kranken Großeltern gekommen waren? Wie würde ich mit der DDR-Schule klarkommen?
    Am ersten Schultag musste ich erst um 10 Uhr erscheinen. Der Direktor führte mich dann zur Klasse, die schon seit 8 Uhr Unterricht hatte. Der Klassenlehrer begrüßte mich, sagte zu den Schülern: „Das ist euer neuer Mitschüler Thomas Raufeisen,“ und wies mir einen freien Platz zu. Es herrschte eine absolut merkwürdige Atmosphäre. In der Luft hing ein riesengroßes Fragezeichen, ich fühlte richtig die Neugier der Schüler, aber keiner fragte mich irgendetwas. Sie verhielten sich sehr freundlich, aber auch sehr reserviert mir gegenüber. Das war nicht nur am ersten Tag so, es blieb fast die gesamte Schulzeit so. Da habe ich zum ersten Mal so richtig zu spüren bekommen, dass ich immer ein bunter Vogel, etwas Besonderes sein würde. Eine Rolle, die mir überhaupt nicht lag. Außerdem war ich 16, da will man doch wie alle anderen sein, nicht auffallen, zur Gruppe dazu gehören!
    Vom ersten Tag an war mir in der DDR ein Großteil des Vertrauens gegenüber anderen Menschen verloren gegangen. Ich fühlte mich ständig überwacht. Wem konnte ich überhaupt noch trauen? Selbst mein Vater hat mich verraten. Und wenn ich jetzt neue Leute kennen lerne? Interessierten die sich wirklich für mich oder schickte sie die Stasi, um mich für alle Fälle und an jedem Ort unter Kontrolle zu halten? Das ging mir an dem Tag in der neuen Schulklasse durch den Kopf. Aber warum legten die Schüler ein so merkwürdiges Verhalten an den Tag? Später hat mir einer von ihnen die Vorgeschichte erzählt. Der Klassenlehrer hatte ihnen vorher von meiner Ankunft erzählt. Er hatte ihnen die Wahrheit gesagt, also dass der Sohn eines „Kundschafters des Friedens“ kommen würde. Sie sollten sich nett um mich kümmern, aber auf keinen Fall Fragen stellen. Da brauchte mich das Verhalten nicht zu wundern. Sie waren sehr diszipliniert und hielten sich genau an die Anweisung. Was die wohl so gedacht haben mögen? Zumindest musste ich ihnen nicht diese Geschichte auftischen, dass wir nur in die DDR gekommen sind, um uns um meine Großeltern zu kümmern. Aber die Wahrheit klang ja auch nicht besser. Wie sollten sie mich einschätzen? Wer vom Westen in den Osten kommt, mehr oder weniger freiwillig, mit dem kann doch etwas nicht stimmen, der hat bestimmt mit der Stasi zu tun, da ist Vorsicht geboten! Zwanglose Kontakte oder sogar Freundschaften waren damit eigentlich von vornherein ausgeschlossen. Und gegenüber denen, die Kontakt zu mir suchten, war ich dann extrem misstrauisch. Ob mich die Situation zum Außenseiter machte oder ich mich selbst durch mein Misstrauen – ich weiß es nicht. Ich konnte und wollte mich einfach nicht verstellen, meine Herkunft nicht verschleiern.
    Der Unterricht selbst unterschied sich in vielen Dingen von dem, was ich kannte und gewöhnt war. Auf mich wirkte erst einmal alles alt, bieder und vorsintflutlich. Das begann schon mit der morgendlichen Begrüßung: Alle Schüler mussten aufstehen, der FDJ-Sekretär erstattete militärisch straff Meldung: „Klasse 11 c angetreten zum Unterricht. Schüler XY sind krank.“ Dann begrüßten alle im Chor den Lehrer. Und dann wurde auch noch im Stehen ein Lied gesungen. Der FDJ-Sekretär sang die erste Strophe eines Liedes vor, die Klasse musste dann die

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