Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
nichts geändert. Wir vier waren wie Menschen, die aus der Zeit gefallen waren, aneinander gekettet durch ein besonderes, ein einmaliges Schicksal. Über Wochen sprachen nur wir miteinander – wenn man von den Kontakten zu unseren „Betreuern“ absieht. Wir hatten endlos Zeit. So nah waren wir uns wohl noch nie gewesen. Und gleichzeitig so fern. Für alles, was uns negativ auffiel, die „Vertreibung“ aus der Heimat und unsere Verlorenheit überhaupt, aber auch Kleinigkeiten wie das einfallslose Essen, das Frieren ohne Heizung am Morgen, machten wir unseren Vater verantwortlich. Er war an allem schuld. Das ließen wir ihn auch spüren. Sicher verflog der anfängliche Hass gegen ihn, aber er wurde auch nie wieder die Autoritätsperson, die er einmal gewesen war. Unser Umgang miteinander war ein anderer geworden. Mein Vater hatte ein schlechtes Gewissen und begegnete uns mehr auf Augenhöhe. Wir Jungs standen nun fast auf einer Stufe mit ihm und konnten plötzlich über alles reden. Dennoch war es gut, dass unsere Mutter dabei war. Sie hat die Familie, die es ja damals fast zerriss, zusammen gehalten und verhindert, dass wir im Lagerkoller durchdrehten.
Rückblick II
Mein Bruder und ich hatten von der Spionagetätigkeit unseres Vaters die ganzen Jahre über nichts geahnt, gar nichts. Wir hätten ihn wohl ausgelacht, wenn er uns gestanden hätte, dass er Stasi-Spion sei, hätten ihn nicht für voll genommen, hätten es als Spinnerei abgetan. Meine Mutter allerdings hatte davon schon früher erfahren. Wobei das eher zufällig geschehen war. Es kam Anfang der 60er Jahre häufiger vor, dass mein Vater nachmittags kommentarlos aus der Wohnung verschwand und mehrere Stunden fortblieb. Meine Mutter saß dann zu Hause mit uns zwei kleinen Kindern (Mein Bruder wurde 1960 und ich 1962 geboren.) und machte sich so ihre Gedanken. Sie hatte verständlicherweise den Verdacht, mein Vater hätte sich eine Geliebte zugelegt. Also machte sie ihm eine Szene, fragte, wollte Genaueres wissen, wer sie sei, wie lange das schon gehe… Die Wahrheit war schlimmer als das, was sie vermutet hatte. Sie hatte doch schweren Herzens ihre Heimat für ihren Mann verlassen; ständig musste sie gegen ihr Heimweh ankämpfen, wenn sie allein zu Hause saß und ihr Mann arbeiten war. Die Ostsee, ihre Eltern waren weit weg. Und er brachte mit seiner Spionagetätigkeit die Existenz der vierköpfigen Familie in größte Gefahr. Aber was sollte sie tun? Sich von ihrem Mann trennen? Sich dann allein mit zwei kleinen Kindern durchschlagen, ohne Berufsausbildung, ohne Hilfe durch Verwandte? Anfang der sechziger Jahre, als Alleinerziehende noch wie Aussätzige behandelt wurden, erschien ihr das unmöglich.
Mein Vater beruhigte sie: Die Arbeit für die Stasi sei sowieso zeitlich begrenzt geplant. Im Allgemeinen würden die „Kundschafter“ nach fünf bis sechs Jahren wieder in die DDR zurückkehren. Meine Mutter bekniete ihn regelrecht, wegen der Gefahr für die Familie mit der Spionage aufzuhören und doch in die DDR zurückzukehren, ehe wir Söhne in Hannover, im Westen, zu verwurzelt seien, also auf jeden Fall, bevor wir in die Schule kommen würden. Mein Vater versprach es ihr. Die angekündigte Rückkehr verschob sich aber immer wieder. Meine Mutter drängte ihn immer wieder in all den Jahren, er solle doch einfach aufhören. Aber wer sich einmal für so eine Arbeit verpflichtet hat, kommt dort wohl so schnell nicht wieder heraus. Schließlich versuchte meine Mutter, damit zu leben, ließ sich nie selbst mit der Stasi ein, verdrängte die Gefahr und hoffte, dass alles gut ginge bis zur Rente oder zumindest, bis ihre Söhne aus dem Haus sein würden. Mein Vater beruhigte sie immer wieder, versuchte, ihre Ängste zu zerstreuen, schloss aber aus, bei der Stasi zu kündigen, und machte einfach weiter. Das erzählte uns unsere Mutter damals in Eichwalde. Warum?, fragten wir. Warum hast du das mitgemacht? Warum bist du mit ihm auch in die DDR gegangen? Weil sie die Familie schützen wollte, weil sie uns Vater und Mutter erhalten wollte, um jeden Preis.
Mein Bruder und ich wurden beide in Hannover geboren. Matchbox, Playmobil, Unsere kleine Farm, Rauchende Colts, Helmut Schmidt, die RAF – das war unser Land! Wir führten das völlig normale Leben von Kindern und Jugendlichen in einer normalen Familie – so dachten wir. Kurz bevor ich eingeschult wurde, zogen wir von der Stadtmitte Hannover nach Ahlem am Stadtrand von Hannover um, in einen Stadtteil,
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