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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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anderen Strophen zusammen singen. Und das war nicht unbedingt „Alle Vögel sind schon da“, sondern straffe Arbeiterkampflieder. Ich stand immer nur betreten an meinem Tisch, wenn die anderen sangen.
    Dann die Anordnung der Tische und Stühle im Klassenzimmer: Ich war es gewöhnt, dass die Tische U-förmig standen, um miteinander besser sprechen und diskutieren zu können. Gerade in den 70er Jahren wurde doch im Westen alles diskutiert. Dort, in Ost-Berlin, waren alle Tische hintereinander angeordnet, was die Diskussionen, wenn sie überhaupt mal entstanden, erschwerte. Das war aber wohl auch so gedacht. Die einzig „richtige“ Meinung kam ja von vorn, vom Lehrertisch. Viele Fächer aus den Gesellschaftswissenschaften waren völlig anders als das, was ich kannte.
    Im Deutschunterricht wurde zwar auch Literatur gelesen, aber bei der Besprechung der Lektüre wurden nicht verschiedene Meinungen gesammelt und diskutiert, wie ich es aus Hannover kannte, sondern es gab nur ein Frage- und Antwortspiel mit dem Lehrer. Jede „Diskussion“ ging so lange, bis jemand den Standpunkt vertreten hatte, den der Lehrer hören wollte. Andere Meinungen oder Sichtweisen waren nicht erwünscht. Dabei wurde mir schnell auch das eigentliche Hauptfach in dieser Schule deutlich: Heuchelei. Fast alle Schüler konnten offensichtlich mit zwei Zungen sprechen. In der Pause jedenfalls redeten sie ganz anders und vertraten häufig das Gegenteil von dem, was sie kurz vorher im Unterricht gesagt hatten. Das war so eine ganz merkwürdige Sache, die ihnen überhaupt nicht auffiel, mir aber umso mehr. Damit kam ich nicht so richtig klar, weil ich nicht mehr abschätzen konnte: Ja, was meinen sie denn nun tatsächlich?
    Das langweiligste Fach war Geschichte. Dort wurden keine historischen Zusammenhänge vermittelt, keine Quellen gelesen und interpretiert, sondern nur, und zwar bis ins Detail, kommunistische Parteitage der zwanziger Jahre durchgenommen. Staatsbürgerkunde war für mich Freistunde, das habe ich mir lieber erspart – beneidet von den anderen Schülern. Russisch sah ich mir interessehalber einmal an, verstand aber natürlich kein einziges Wort. Nur die naturwissenschaftlichen Fächer waren etwa auf dem gleichen Stand wie im Westen; allerdings musste ich mich plötzlich wieder mit Fächern beschäftigen, die ich im Gymnasium aufgrund des Kurssystems schon abgewählt hatte: Biologie und Chemie.
    Besonders im Deutschunterricht, den wir bei unserem Klassenlehrer hatten, gab es einige Erlebnisse, die mich damals schon sehr erschreckten. Es gab nämlich ein, zwei Schüler, die auch mal brisante Fragen stellten. Einer fragte eines Tages: „Ich habe gehört, dass das Viermächteabkommen über Berlin 50 Jahre gültig sein soll. Was passiert denn danach; rücken dann alle Besatzungsmächte aus Deutschland ab?“ Der Lehrer verbesserte zunächst einmal den Schüler: „Das Viermächteabkommen gilt für West-Berlin!“ Ich war verblüfft: Irrte ich mich oder hatte West-Berlin nicht drei Besatzungszonen, warum sollte also das Viermächteabkommen nur dort gelten? Es hatte schon seinen Grund, warum dieses Abkommen aus Sicht der DDR nur für den West-Teil der Stadt gelten sollte. Laut dieses Abkommens war es zum Beispiel deutschem Militär nicht erlaubt, Berlin zu betreten. Einzig und allein die Alliierten des Zweiten Weltkrieges durften das. Das hinderte die DDR nie daran, in Ost-Berlin am 1. Mai und am 7. Oktober, dem Nationalfeiertag der DDR, Militärparaden der Nationalen Volksarmee abzuhalten. Aber was würde passieren, wenn die Alliierten aus Deutschland abziehen? Der Lehrer hatte da eine eindeutige Meinung:
    „West-Berlin steht auf dem Boden der DDR, es fällt also der DDR zu. Es gehört ja auch nicht zu West-Deutschland.“
    Was redet der da?
    Der Schüler fragt daraufhin: „Meinen Sie, die Alliierten würden sich das gefallen lassen? Und wie ist das, wenn ich als Soldat der Nationalen Volksarmee im militärischen Konfliktfall plötzlich vor meinem Bruder oder Cousin stehe, der bei der west-deutschen Bundeswehr ist?“
    Auch darauf antwortete der Lehrer eindeutig: „Die Verteidigung unseres Vaterlandes geht vor. Wenn vor Ihnen ein Verwandter steht, heißt es: Er oder Ich!“
    Ich war sprachlos. So banal wurden hier Feindbilder vermittelt! Angenommen, mein Bruder wäre bald wieder im Westen, käme zur Bundeswehr, ich hier in der DDR zur Volksarmee, dann stünde ich wirklich meinem Bruder gegenüber. Und den sollte ich dann als „Feind“

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