Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
drei Wochen später. Das war mir im Nachhinein ganz recht, denn dadurch bin ich einem schweren Konflikt entgangen: Jeder Jugendliche musste an einer zweiwöchigen vormilitärischen Ausbildung teilnehmen: Handgranatenwurf, Bewegen und Orientieren im Gelände, Übungen mit Gasmasken, Ausdauerläufe, Sturmbahn, Schießen. Dazu kamen Exerzierübungen sowie militärtheoretischer und politischer Unterricht, der von Armeeangehörigen durchgeführt wurde. Es war für mich die absolute Horrorvorstellung, bei so einer Veranstaltung mitmachen zu müssen, in Uniform, in einem Lager! Später erfuhr ich, dass teilweise ehemalige Ausbildungslager der Hitlerjugend für diese Zwecke genutzt wurden. Was soll man dazu noch sagen? Die anderen Jungs hatten diesen Unterricht schon regelmäßig während ihrer Schulzeit gehabt.
Plötzlich in die Arbeitswelt der DDR geschubst zu werden, fiel mir extrem schwer. Als ehemaliger Gymnasiast, dessen Schule um 8 begonnen hatte, musste ich plötzlich um 6 Uhr morgens im Betrieb sein. Das hieß: um 4 Uhr aufstehen, im Dunkeln. S-Bahn, Bus, graue Gesichter, Mütter, die ihre unausgeschlafenen Kinder in die Krippe karrten, Trabi-Abgasfahnen, Braunkohle-Gestank. Morgens um 5 auf dem Weg zur Arbeit war die DDR noch bedrückender als sonst.
Nun hatte ich gedacht, ich würde wenigstens lernen, den „Lada“ oder auch den „VW Golf“ zu reparieren. „Golf“-Werkstätten gab es, weil damals gerade 10.000 solcher Fahrzeuge in die DDR eingeführt worden waren. Aber natürlich wurde es nicht der Traumberuf, natürlich kam es wieder schlimmer als befürchtet. Mein Ausbildungsbetrieb war der „VEB AutoTrans Berlin“, ein Speditionsunternehmen mit eigener großer Werkstatt. Dort wurden jedes Jahr so viele Lehrlinge angenommen, dass alle zusammen in der Berufsschule in einer Klasse unterrichtet wurden. Aus Kapazitätsgründen passte ich dort aber nicht mehr rein und hatte deshalb in der Berufsschule eine andere Klasse als im Ausbildungsbetrieb. Auch dies machte mich wieder und noch mehr zum Außenseiter. Aber es war ja nicht nur das. In der Werkstatt wurden nicht die Autos repariert, die ich mir erhofft hatte, keine Ladas, keine Golfs. Es war eine reine LKW-Werkstatt, so dass ich an dem weit verbreiteten Lastwagen vom Typ „W50“ ausgebildet wurde. Eine körperlich sehr schwere, schmutzige Arbeit; ich brauchte sehr lange, um mich daran zu gewöhnen.
Meine Herkunft wurde nur meinem Lehrmeister bei Auto-Trans, dem Schulleiter der Berufsschule sowie meinem dortigen Klassenlehrer mitgeteilt. Die Lehrlinge wussten anfangs nichts über meine Herkunft, wobei es sich nicht lange verheimlichen ließ. Im Betrieb fand montags nach der regulären Arbeitszeit immer eine Lehrunterweisung statt, auf der dann Themen zum Arbeitsschutz und zum Arbeitsrecht besprochen wurden, die jeweils immer etwa eine Stunde dauerte. Danach folgte noch das sogenannte „FDJ-Studienjahr“, das für alle FDJ-Mitglieder verbindlich war. Dort wurden politische Themen behandelt, jeder Lehrling musste irgendwann auch einen Vortrag zu einem vorgegebenen Thema halten.
Am ersten Tag gleich nach der Lehrunterweisung sagte der Lehrmeister im Versammlungsraum zu mir: „Sag mal, Thomas, bist du eigentlich Mitglied in der FDJ?“
Ich antwortete: „Nein“.
„Na, dann kannst du jetzt nach Hause gehen!“
„Na dann Tschüss!“
Ich war der Einzige, der in diesem Moment nach Hause gehen durfte. Verwunderte Blicke begleiteten mich hinaus.
Am nächsten Tag wurde ich von einem Kollegen gefragt: „Sag, du bist nicht in der FDJ? Haben sie dich vergessen?“
Ich habe ihn dann kurz über meine Herkunft aufgeklärt, natürlich mit der Erklärung, dass wir uns um meine Großeltern kümmern müssten. Wie mir diese Erklärung, dieses Lügen zum Hals raushing! Immer wieder musste ich die Geschichte erzählen, ich hörte mir schon selbst dabei zu! Aber anders als andere Geschichten, die beim wiedeholten Erzählen immer besser wurden, schlaffte meine Geschichte immer mehr ab.
Die Erklärung reichte – wie immer –, aber ob sie mir so geglaubt wurde, möchte ich bezweifeln. Sie hat eher das Misstrauen mir gegenüber noch geschürt. Dort im Betrieb sind auch nie richtige Freundschaften entstanden. Mein Außenseiterdasein fand seine Fortsetzung. Ich hatte aber auch nur wenige Anknüpfungspunkte zu den anderen Lehrlingen; ich wollte ja eigentlich studieren, sie waren mit Basteleien an ihren Mopeds und Motorrädern beschäftigt, mit veränderten Blinkern
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