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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Kreuzberger Kneipen in Sichtweite, manchmal konnte man in der Ferne sogar kurz die Hochbahn der U-Bahn-Linie 1 sehen. Der Funkturm am Messegelände war in Sicht, wenn man die Leipziger Straße entlang Richtung Westen schaute, durch die Beleuchtung besonders nachts gut zu sehen. Westberlin wurde für mich eine Art heiliger Ort, eine Traumstadt, ein Ort der Verheißung. Wenn ich nur dort wäre, wäre alles andere egal: ob ich mein Abi schaffen würde, ob ich studieren könnte, ob ich eine Freundin hätte oder nicht. Von einer Stelle des Balkons konnte man sogar die „Schwangere Auster“, die Kongresshalle im Tiergarten, sehen. Oft stand ich, gerade anfangs im Sommer, abends draußen auf dem Balkon, im Hintergrund lief immer und immer wieder die Novalis-Platte:
    „Wer in das Bild vergang‘ner Zeiten
wie tief in einen Abgrund sieht
in welchen ihn von allen Seiten
ein süßes Weh hinunter zieht.“
    Ich schaute herab auf die Vergangenheit, in den Westen! Da unten lag alles, was ich wollte! Im August 1979 kamen auch unsere eingelagerten Möbel und Kisten in der neuen Wohnung an. Dabei entstand so etwas wie eine West-Exklave. Alles in der Wohnung stammte aus dem Westen. Es war uns schon bewusst nach den Monaten im Eichwalder Sprelacart-Charme. Das Sofa, meine Stereo-Anlage, mein Platten, die Bücher, ein paar SPIEGEL und STERN… Für uns war das ein letzter Rest des uns verbliebenen Westens, eine Zufluchtsstätte in einer immer feindlicher wirkenden Umgebung. Aber es war eine trügerische Zufluchtsstätte.
    Hier in der Wohnung konnte mein Bruder endlich auch Besuch von seiner Freundin Annette aus Hannover empfangen. Das erlaubte die Stasi, allerdings nicht uneigennützig: Als Annette in Begleitung ihrer älteren Schwester kam, bot ihr die Stasi doch allen Ernstes an, doch „auch“ überzusiedeln. Das junge Paar würde alles bekommen, was es sich nur wünschte, die DDR würde ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Die Stasi unternahm sogar den Versuch, die beiden Schwestern für Spionagedienste im Westen anzuwerben. Was für eine Dreistigkeit! Dagegen stand die Bereitschaft von Annettes Mutter, die allein drei Töchter großzog, Michael aufzunehmen, wenn er in den Westen zurückkäme, so dass er nicht auf der Straße stünde. Das hat ihm geholfen, aber sicher auch meinen Eltern, die seinen Rückkehrwunsch nun etwas beruhigter unterstützen konnten.
    Nachdem mein Bruder sich über Monate standhaft geweigert hatte, freiwillig in der DDR zu bleiben, kam die Stasi wohl doch langsam zu dem Schluss, dass sie ihn nicht würden halten können. Die Überzeugungsgespräche wurden weniger. Inwieweit dabei eine Rolle spielte, dass Annette von Hannover aus Briefe an das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen geschrieben hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir hatten nicht das Gefühl, dass unser Schicksal irgendjemanden im Westen interessierte – von unseren Freunden einmal abgesehen. Es rührte sich keine offizielle Stelle, obwohl ein erwachsener Bürger der Bundesrepublik gegen seinen Willen von einer fremden Macht festgehalten wurde.
    Bei mir musste die DDR nicht so viel Aufwand treiben und Überzeugungsarbeit leisten, mich hatte sie ja! Ich versuchte mich immer zu beruhigen: Wenn ich in einem Jahr 18 Jahre alt bin, werde ich auch nach Hannover zurückkehren, sie werden mich nicht festhalten können!

Die Lehre
     
    Was blieb jetzt noch übrig, was ich machen konnte? Ich war 16, brauchte einerseits eine Beschäftigung, wollte mich andererseits aber auf nichts einlassen, da ich mich als Geisel der DDR fühlte. Es war Sommer 1979, die Zeit schritt voran, ich musste etwas finden, obwohl meine Motivation auf dem Nullpunkt war. Eine Lehre? Der Beginn des nächsten Ausbildungsjahres rückte immer näher. Was interessierte mich außer Architektur? Autos! Kraftfahrzeugmechaniker war in der DDR genauso ein „Traumjob“ wie im Westen. Wenn es denn sein sollte, würde ich das machen.
    Bei diesem Beruf gab es genauso wie im Westen vier Bewerber um eine offene Lehrstelle. Aber die Stasi konnte wieder alles ermöglichen, was sie wollte. Es war allerdings schon sehr spät, alle meine Konkurrenten hatten sich schon viel früher beworben. „Willi“ sagte, es würde dennoch klappen, aber Sonderwünsche wären nicht mehr möglich. Wahrscheinlich war er schon ganz schön genervt, das war mir aber egal. Ich wollte ja nicht hier sein. Da die Organisation Zeit brauchte, konnte ich nicht sofort zu Beginn des Lehrjahres beginnen, sondern erst

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