Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
mein Mäppchen, das hier Federmappe hieß, meinen Füller, meine Stifte, mein Lineal ausgepackt hatte, sagte er: „Von uns is det aber nich!“
„Nö!“
„Und, wo kommst du so her?“
„Aus Hannover.“
Er stutzte und sagte: „Das ist doch im Westen!“
„Ja“, sagte ich.
Damit war erst mal das Thema erledigt. Er hat sich aber mächtig gewundert. Dieses Schweigen, wo eigentlich die Neugierde die Menschen antrieb, hat mich auch einiges über die DDR gelehrt, über die Deformierung des Charakters, die zur Folge hatte, dass man sich eine einfache Nachfrage zur Herkunft lieber verkniff, als eventuell etwas Falsches zu sagen oder zu fragen. Und auch mich hat die DDR deformiert, denn ich war ja froh, dass keiner weiter nachfragte.
Peter hat auch profitiert von meiner West-Ausstattung. Mal abgesehen davon, dass ich ihn immer abschreiben ließ – wir saßen ja ganz hinten in der Ecke –, habe ich ihn natürlich meinen Taschenrechner mitbenutzen lassen. So etwas hatten dort die wenigsten Schüler, wie auch schon vorher auf der EOS. Es wurde häufig noch der Rechenschieber benutzt. Ganz besonders erstaunlich fand ich, dass sie das simpelste Hilfsmittel für den Mathematik-Unterricht, das bei uns im Westen jeder hatte, nicht kannten und entsprechend bestaunten: Das Geo-Dreieck. So ein Gerät fand wohl auch nie den Weg in die West-Pakete.
Wir haben uns dann sehr schnell angefreundet. Peter hat es einfach hingenommen, dass ich aus dem Westen stammte und plötzlich hier war. Es war für ihn ja auch interessant, so jemanden zu kennen. Er ließ sich nie über politische Themen aus, das war einfach nicht sein Ding, bis heute nicht. Sein Leben lief in geregelten Bahnen ab. Was er zu machen hatte, wurde ihm vorgesetzt. Schule, Wehrausbildung, Lehre, FDJ – er folgte wie fast alle dem ausgetrampelten Pfad, über den sich kaum einer Gedanken machte. Abzweigungen waren nicht ausgeschildert und wurden dementsprechend auch wenig genommen.
Dass ich plötzlich mit meiner sehr merkwürdigen Vita in seinem Leben auftauchte, änderte daran nichts. Irgendwann habe ich ihn auch einmal zu uns nach Hause eingeladen. Peter brachte auch gleich seine drei Jahre jüngere Schwester Grit mit. Unsere Wohnung war für die beiden natürlich der absolute Knaller. Eine West-Wohnung 1:1 in den Osten transferiert! Es roch wie im Intershop. Wir hatten ja alles da! Wir hatten Schallplatten, Bücher und Zeitungen; es war eigentlich alles verboten, was wir hatten. Dazu kamen unsere Erzählungen und Super8-Filme von unseren Urlauben in fast ganz West-Europa. Dazu der direkte Blick von unserem Balkon in den Westen. Die beiden haben uns recht häufig besucht, wir verstanden uns sehr gut, aber brisante politische Themen rührten sie nicht an und wir vermieden das auch. Für sie waren wir nun im Osten und lebten ein ganz normales Leben. Dass das Gegenteil der Fall war, mussten wir verheimlichen. Was ist schon normal? Wie sollte das alles normal für uns sein? Wir wollten ja schon wieder raus, so schnell wie möglich, auch ohne Erlaubnis der DDR. Das durften unsere Gäste auf keinen Fall mitkriegen. Wer weiß so genau, wie sicher wir bei ihnen sein konnten. Viele Jahre später fand ich in der Stasi-Akte nichts über Peter und seine Schwester Grit, was sie in Zusammenhang mit der Stasi bringen konnte. Ich war im Nachhinein heilfroh. Damals mussten wir auch andersherum vorsichtig sein, um sie nicht zu gefährden. Es war alles zu vermeiden, sie irgendwie da mit hineinzuziehen.
Rückblick III
Wenn wir in den 70er Jahren jedes Jahr unsere Verwandten im Osten besuchten, fand ich es immer sehr unschön, gerade meinen Cousins unser Zuhause nicht zeigen zu können. Es war irgendwie absurd, aber so war es eben: Wir hatten nie andere Verhältnisse erlebt und dachten auch nicht, dass sich irgendetwas dramatisch ändern könnte.
Wir ahnten nichts vom Doppelleben unseres Vaters. Im Nachhinein sind mir aber einige Dinge eingefallen, die auffällig waren und Hinweise darauf hätten geben können. Meine Verwandten waren in der DDR gut integriert, mein Onkel Günter in Erfurt war Lehrer an einer EOS, einer Erweiterten Oberschule. Seine damalige Frau, von der er sich aber Anfang der 70er Jahre getrennt hatte, eine besonders linientreue Pionierleiterin. In Gera lebte die Schwester meines Vaters, Ingrid. Sie erlebte ich als Hausfrau, ihr Mann Erich war Elektro-Ingenieur. Was mir schon damals auffiel, wenn wir sie in den 70er Jahren besucht haben: Sie schimpften
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