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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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benutzt, um verschlüsselte Nachrichten bzw. Befehle von der anderen Seite zu erhalten. Früher konnte man häufig auf verschiedenen Kurzwellen-Frequenzen monoton gesprochene Zahlenkolonnen hören.
    Alles sehr seltsame Begebenheiten. Aber wer sollte schon auf das kommen, was wirklich dahinter steckte?

Vater beginnt zu zweifeln
     
    Integration war schlichtweg unmöglich! Es war einfach undenkbar, dass wir so etwas wie Normalität in der DDR erreichen würden. Für unsere Stasi-„Betreuer“ war es dagegen undenkbar, dass es nicht klappen konnte. Wir dachten und redeten vollkommen aneinander vorbei.
    Es ging nicht. Wir trugen ja nur West-Kleidung; wir sahen schon ganz anders aus als die normalen Leute auf der Straße. Vielleicht habe ich mir das auch eingebildet, vielleicht waren wir gar nicht so auffällig. Aber in meiner Vorstellung sahen mir alle sofort an, dass ich nicht „von hier“ war.
    Nur in der Wohnung war alles stimmig, beinahe ein Leben in der Vergangenheit. Unsere Wohnung, die West-Exklave. Aber sie war auch nur ein sehr trügerischer Zufluchtsort. Wir waren uns sicher, dass sie verwanzt war. Also konnten wir in der Wohnung auch nicht frei reden. Sich in den eigenen vier Wänden verstellen zu müssen ist eine wahrhaft aberwitzige Lage. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man nicht in dieser Situation war: Rausgehen müssen, um Geheimes zu besprechen; der Mutter den Zeigefinger auf den Mund zu legen, weil sie vergessen hat, dass wir belauscht werden. Wie kann man Sex haben in der Gewissheit oder auch nur in der Ahnung, jemand hört mit? Normalität ist anders. Jeden Tag, wenn ich morgens aus dem Fenster schaute, blickte ich auf die Mauer und wusste: Da kommst du nicht rüber! Für mich, für uns war das alles wie ein Alptraum! Und das jeden Tag! Draußen auf der Straße war es ja nicht besser: Ostberlin hatte für mich eine ganz komische Atmosphäre. An jeder Straßenecke standen Uniformierte oder auch Zivilisten, die aussahen wie Stasi. Ich hatte ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. In der Schule, im Betrieb sowieso. In so einer Situation kann man sicher paranoid werden. Ich habe mich immer mehr in mich zurückgezogen. Nach der Schule bin ich gleich nach Hause, habe dort gelesen oder Musik gehört. Die alten Platten standen auch für die alte Heimat, die Musik stand für die Freiheit zu gehen, wohin man will, und zu tun, was man will. Ab und zu kamen Peter und seine Schwester zu Besuch; sie staunten immer kindlich über all die vielen schönen Dinge aus dem Westen, über Stereo-Anlage, Farbfernseher und Küchengeräte. Sonst nahm ich niemanden mit nach Hause, auch keine Mädchen. Mein Misstrauen war immer noch größer als die Lust, richtig zu leben. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Adorno“ stand in meiner Schule in Hannover auf einer Klotür. Hier, in der DDR, verstand ich, was damit gemeint war.
    Der einzige Gedanke, der unser Leben beherrschte, war bald: Wie kommen wir alle, nicht nur mein Bruder und ich, wieder rüber? Denn auch in meinem Vater hatte sich etwas gewandelt. Er hatte die Spionage für die DDR wohl die meiste Zeit aus Überzeugung geleistet. Gleich in den ersten Wochen und Monaten in der DDR bekam er erstmals seit seiner „Flucht“ 1957 wieder reale Einblicke in diesen Staat, für den er so eine gefährliche Arbeit getan hatte. Was er da sah, gefiel ihm sehr schnell überhaupt nicht mehr. Mit der DDR unserer Urlaubsfahrten hatte das nichts mehr zu tun. Die DDR zeigte uns ihr wahres Gesicht dadurch, wie ihr Werkzeug, das Ministerium für Staatssicherheit bzw. deren Mitarbeiter, mit unserer katastrophalen Situation umging. Keinerlei Verständnis, keine richtige Hilfe. Vor allem im Umgang mit meinem Bruder und mir. Von uns wurde einfach erwartet, dass wir alles hinnehmen und sogar noch stolz auf unseren Vater sind, der uns in so ein Unglück gestürzt hatte. Sie haben nicht einmal versucht, sich in unsere Lage hinein zu versetzen. Es ging nur um die „Sicherheitsinteressen“ der DDR. Ob Unbeteiligte dabei zu Schaden kamen, war ihnen offensichtlich völlig egal. Überhaupt war die DDR voller abstrakter, diffuser Bedrohungen: Wenn du das und das machst, kann das und das passieren! Oder auch nicht. Nichts musste, vieles konnte passieren, wenn man sich nicht den Regeln entsprechend verhielt.
    Dieser verständnislose Umgang mit unseren Problemen stieß auch meinem Vater übel auf. Das war nicht die DDR, die er sich erträumt hatte. Warum mein Vater die

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