Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
begann. Für uns alle war es eine Qual: Einerseits hofften wir für Michael, dass er bald fahren könnte, in die Freiheit. Dort könnte er wieder so leben, wie er wollte und vor allem auch etwas für uns, für unsere Ausreise, unternehmen. Andererseits hatten wir Angst davor, denn das würde uns noch mehr auseinanderreißen. Wer weiß, wann wir ihn wiedersehen könnten? Vor allem meine Mutter litt unter diesem Konflikt, aber auch mein Vater, der sich schuldig an der Situation fühlte.
Am 14. Dezember schließlich kamen die Stasi-„Betreuer“ Willi und Peter und sagten zu Michael: „Pack deine Sachen zusammen, du hast eine Stunde Zeit, dann holen wir dich ab!“ Und weg waren sie wieder, die beiden Männer, die immer so freundlich und kumpelhaft gewesen waren. Eine Stunde! Ein weiterer Schock, auch gerade für mich. So plötzlich geht es los. Michael wird noch heute Abend Hannover wiedersehen. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder heulen sollte. Ich war völlig fertig. Warum durfte er und ich nicht? Warum hat er dieses Glück und ich dieses Pech? Ich fühlte mich noch einsamer und noch mehr als Gefangener. Warum wurde ich hier weiter festgehalten, was habe ich denen denn getan? Meine Eltern konnten mich auch nicht trösten, sie waren selbst ganz hilflos.
Michael wurde richtig raus gejagt. „Willi“ und „Peter“ brachten ihn zum Bahnhof Friedrichstraße, er erhielt eine Fahrkarte nach Hannover und seinen Pass zurück und wurde im Eiltempo auf einem geheimen Weg (auch Ho-Chi-Minh-Pfad genannt!) durch die Katakomben des Bahnhofs an allen Kontrollen vorbei geleitet. Plötzlich fand er sich auf dem Bahnsteig wieder, wo die Züge durch West-Berlin in Richtung West-Deutschland fuhren. Wie er mir später erzählte, dachte er während der gesamten Fahrt, dass irgendjemand ihn wieder aus dem Zug herausholen würde. Die Stasi. Oder in Helmstedt ein west-deutscher Geheimdienst. Aber nichts passierte. Er kam wohlbehalten in Hannover an und wurde von seiner Freundin Annette und deren Familie aufgenommen. Was für ein Glück, dass er dort erst einmal wohnen durfte! Michael hatte außer seinen Sachen noch etwas im Gepäck. In seinem Mantel war ein Zettel eingenäht mit einer Nachricht für den BND. Mein Vater teilte darin mit, dass er in den Westen zurückkehren wolle, und bot als Lockmittel Informationen aus seiner Spionage-Tätigkeit an, damit überhaupt Interesse geweckt wird, uns zu helfen. Wie mein Bruder später erzählte, war das Interesse des BND sehr mager. Mein Vater hatte schließlich über zwanzig Jahre für die Gegenseite gearbeitet; da war wohl Vorsicht geboten. Mein Bruder stand nun ganz allein da, musste plötzlich selbständig leben. Seine Familie konnte ihm nicht mehr helfen. Finanziell musste er auch alleine klarkommen. Er hatte zwar als kleine Starthilfe 2000,- DM mitbekommen, aber das würde schnell aufgebraucht sein. Mehr konnten meine Eltern auch nicht entbehren, denn ihr Westgeld war ja begrenzt. Michael hatte sich auch Hilfe von westlicher Seite erhofft, gerade, wenn er Kontakt zu einem ehemaligen DDR-Spion herstellen würde, der überlaufen will. Aber nichts kam. Er hatte sogar Schwierigkeiten nachzuweisen, wo er überhaupt geblieben war in den vergangenen elf Monaten. Der Berufsschule war er einfach ferngeblieben, hatte unentschuldigt gefehlt. Ein Jahr hatte er verloren, jetzt wollte er dort wieder anschließen. So einfach ginge das aber nicht, wenn er einfach so die Schule schwänzte, wurde ihm mitgeteilt. Seine Erklärungen dazu klangen mehr als unglaubwürdig, wie eine Räuberpistole. Die DDR hatte ihm leider keine Bescheinigung über seinen Aufenthalt ausgestellt. Aber mit Hilfe seines Passes war es möglich, seinen Erzählungen mehr Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Da drin fehlte ein Stempel! Bei einer Fahrt im Transit vom Bundesgebiet nach West-Berlin gab es einen Stempel bei der Einreise in die DDR und einen bei der Ausreise aus der DDR. Mein Bruder hatte in seinem Pass den Einreise-Stempel der Grenzübergangsstelle Helmstedt/Marienborn, es fehlte aber logischerweise der Ausreise-Stempel vom Grenzübergang Dreilinden. Den hatten wir ja nie erreicht. Es zeigte sich aber auch, dass der Schulleiter seiner Berufsschule sehr verständnisvoll war und ihm sagte: „Ich lasse dich hier nicht ohne Abschluss raus.“
Lange mussten wir gar nicht warten, Michael wieder zu sehen: Schon knapp zwei Wochen später, am 2. Weihnachtsfeiertag, konnte er uns, diesmal ganz regulär als Bundesbürger mit
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