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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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rüber fliegen? Oder ein Seil von unserem Hochhaus aus in Richtung Westen spannen und mit einer Seilbahn, wie es sie auf Abenteuer-Spielplätzen gibt, hinübergleiten? Solche Sachen erschienen uns aber nicht realisierbar, wir waren immerhin eine ganze Familie, meine Eltern zudem nicht besonders sportlich. Auch mit Hilfe von Leitern über die Mauer zu steigen erschien uns viel zu gefährlich. Also mussten wir andere Wege finden.
    Mein Vater meinte: „Die einzige und wohl sicherste Möglichkeit wird wohl sein, gefälschte Pässe und ebenso gefälschte Visa zu besorgen. Damit können wir dann eine normale Grenzübergangsstelle passieren. In Frage kommt aber nur eine in einem der sozialistischen Nachbarstaaten. Direkt aus der DDR kommen wir über keine Westgrenze; hier sind wir registriert und unter Beobachtung.“ Aber welches Land wäre geeignet? Viele kamen ja nicht in Frage.
    Auch in jenem Sommer 1979 fuhren wir ein paar Wochen an die Ostsee zu meinen Großeltern nach Ahlbeck. Es war fast wie die Jahre zuvor. Fast machte sich ein Gefühl der Vertrautheit breit. Aber auch nur fast. Das Verhältnis zwischen meinem Vater und meinen Großeltern hatte sich erheblich abgekühlt. Unser „Audi“ hatte nun ein DDR-Kennzeichen; mit unserem West-Geld mussten wir sehr sparsam sein: Es kam ja nichts nach. Also Ostseeurlaub. Mein Bruder und ich badeten viel, meine Eltern lasen am Strand, meine Mutter saß viel mit ihrer Mutter zusammen.
    Vom Strand hatten wir schon immer die Fähren vorbeifahren sehen, die Swinemünde in Polen mit Gedser in Schweden verbinden. Nun aber erregten sie unser gesteigertes Interesse. Dort mussten wir raufkommen, dann würde alles gut werden! Mein Vater erzählte: „Ich habe vor einigen Jahren in der Zeitung gelesen, dass ein Arzt auf diesem Weg geflüchtet ist, zusammen mit seiner Familie!“ Deshalb wollten wir uns die Hafenanlagen in Swinemünde etwas genauer ansehen.
    Ich kam damals das erste Mal nach Swinemünde, obwohl wir ja vorher jedes Jahr in Ahlbeck gewesen waren, nur 5 Kilometer entfernt. Der Grenzübergang war damals aber nur für DDR-Bürger passierbar. Als West-Deutsche hätten wir ein extra Visum für Polen gebraucht, und wir hätten einen etwa 200 km weiten Umweg über Stettin nehmen müssen, um dorthin zu kommen. DDR-Bürger brauchten, zumindest 1979 noch, nur den Personalausweis. Nun besaßen wir ja Personalausweise der DDR – auch mein Bruder hatte einen bekommen – und konnten somit ohne Probleme nach Swinemünde fahren. Am meisten interessierte uns die Anlegestelle der Schweden-Fähren. Wir mussten einige Zeit warten, bis eine einlief. Der Bereich war, wie wir befürchtet hatten, sehr stark abgesichert. Einfach nur heimlich auf das Schiff zu schleichen war schlichtweg unmöglich. Es würde also auch hier nur mit Papieren funktionieren. Mit dieser Erkenntnis kehrten wir enttäuscht nach Ahlbeck zurück. Woher bekommt man Pässe? Nur aus dem Westen. Wer aber könnte uns dort welche besorgen? Ein Cousin meiner Mutter war auch gerade in Ahlbeck bei seinen Eltern zu Besuch. Er wohnte in München; wir trafen ihn und seine Familie fast jedes Jahr in Ahlbeck. Er erklärte sich bereit, mit aller Vorsicht seine Fühler nach solchen Möglichkeiten auszustrecken. Wir dachten auch daran, ihm aktuelle Passbilder mitzugeben. Ob er wirklich etwas unternommen hat? Er musste ja auch vorsichtig sein, denn er hatte seine Eltern und seinen Bruder in der DDR und wollte sie auch weiterhin besuchen können. Wir hörten von ihm diesbezüglich jedenfalls nichts mehr.
    Im Herbst 1979, nach einem halben Jahr in der DDR, zeichnete sich langsam ab, dass mein Bruder wohl bald nach Hannover zurückkehren könnte. Er hatte das Gefühl, dass sie langsam aufgaben, ihn überzeugen zu wollen, da sich die Fronten zu sehr verhärtet hatten. Nachdem alle Gespräche aus Stasi-Sicht keinen Erfolg gehabt hatten und mein Bruder es auch abgelehnt hatte, weiter beim Wohnungsbaukombinat zu arbeiten, teilten sie ihm mit, er möge schon mal packen und sich bereithalten. Einen Termin nannten sie ihm aber nicht.
    „Wir können die Sache beschleunigen, wenn du dich verpflichtest, für uns im Westen zu arbeiten.“ Sie meinten allen Ernstes, mein Bruder würde sich auf so etwas einlassen! Nach dem, was uns gerade passiert war! Wie dumm waren die eigentlich?
    Und so zog sich das Warten erst Wochen, dann Monate hin. Erst hieß es, „vielleicht im September“, dann „vielleicht im Oktober“; es wurde November, der Dezember

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