Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Wirklichkeit der DDR nicht schon vorher bei unseren diversen Verwandten-Besuchen begriffen hatte, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Er muss mit Scheuklappen herumgerannt sein, der Aktuellen Kamera und Karl-Eduard von Schnitzler geglaubt haben. Manchmal glaube ich fast, als einziger.
Das Vertrauen in unseren Vater war damit nachhaltig zerstört. Die Achtung vor ihm ging völlig in die Brüche. Laustarke Streitereien gab es zwar eher selten und wenn, dann zwischen meinem Bruder und ihm. Als die DDR meinem Vater ein paar Wochen nach unserer Einreise einen Orden verlieh, schaute mein Bruder ihn sich an, warf ihn meinem Vater vor die Füße und schrie: „Und für so ein Stück Blech hast du unsere Familie verraten!“ Mein Vater erwiderte darauf nichts. Gar nichts. Was sollte er auch sagen? Ich hatte mehr damit zu tun, meinen tiefsitzenden Schock still für mich zu verarbeiten. Da blieb nur Raum für viele kleine giftige Spitzen. Ich ließ mir auch nichts mehr von ihm sagen. Seine große Schuld drückte ihn derartig runter, dass er auch nichts dagegen unternahm. Es hat zwar für einen pubertierenden Jungen etwas Befreiendes, erfolgreich gegen den bislang übermächtigen Vater zu rebellieren, ihn aber dann am Boden liegen zu sehen, ist wiederum auch zutiefst verstörend. Denn wir wussten: Wenn er auch der war, der uns in diese Lage gebracht hatte, so war er auch der einzige, der uns irgendwie wieder heraushelfen könnte, wenn es denn überhaupt gelingen sollte.
Mein Bruder und ich berichteten ihm von unseren Erlebnissen in Schule, Ausbildung, Lehre. Wir erzählten, wie der Alltag von Militanz durchsetzt war, wie doppelzüngig alle in der Schule sprachen, wie leer die verlogenen Parolen waren, wie dumm die „Wahrheiten“ über den Westen, die uns Lehrer und Stasi zu vermitteln versuchten. Das brachte ihn jedes Mal auf. Ein weiterer Grund für die tiefe Enttäuschung meines Vaters gegenüber der DDR war die Erkenntnis, dass die Ergebnisse seiner gefährlichen Arbeit überhaupt nicht genutzt wurden. Im Geologischen Institut musste er feststellen, dass die Informationen, die er vom Westen in die DDR geliefert hatte, in Schubladen verschwunden waren. Als er das gesehen hatte, kam er unglaublich frustriert nach Hause, schimpfte über Ignoranz und Borniertheit. Immer offener redete er auch mit den Stasi-„Betreuern“ über diese Dinge.
22 Jahre lang hatte er also sich und seine Familie für nichts und wieder nichts in große Gefahr gebracht. Dazu war wohl die trügerische Erwartung gekommen, in der DDR würde es uns ebenso gut gehen wie in Hannover. Versprechungen seitens der Stasi gab es ja. Er war ja selbst Stasi-Offizier, ein „Kundschafter des Friedens“, ein Held, der nach getaner Arbeit aus der Höhle des Löwen in die Heimat zurückgekehrt war! Ihm würden doch sicher überall rote Teppiche ausgerollt! Dass das nicht möglich war, hatte er nicht gesehen oder nicht sehen wollen. So überraschte ihn unsere heftige Abwehr und er musste sehr schnell feststellen, dass er einen riesigen Fehler begangen hatte. Diesen Schritt hat er dann auch sehr schnell bitter bereut. Er hatte uns diese Suppe eingebrockt, er wollte sie dann auch wieder auslöffeln. Innerhalb kürzester Zeit, spätestens im Sommer 1979, hatte sich seine Einstellung gegenüber der DDR um 180 Grad gedreht. Ihm war klargeworden, dass nicht nur meine Mutter, mein Bruder und ich, sondern auch er keine lebbare Zukunft in der DDR hatten. Ein Leben in der DDR aufzubauen und sich mit den Gegebenheiten abzufinden, war für die Familie absolut unmöglich.
Als mein Vater das begriffen hatte, wollte er auch alles dafür tun, dass wir wieder raus, wieder zurück in vertraute Verhältnisse kommen. Wenn uns die DDR nicht freiwillig ziehen lassen sollte, müssten wir versuchen, andere Wege zu finden.
Wir wollen raus
Bloß, wie sollten wir eine Rückkehr bewerkstelligen? Die Stasi-Mitarbeiter schlossen es rundheraus aus, uns wieder in den Westen ziehen zu lassen. Also illegal. Wie viele waren daran schon gescheitert? Außerdem standen wir unter ständiger Beobachtung. Wir hatten auch keinerlei vertrauenswürdige Kontakte, um Hilfe zu erhalten. Viele Ideen gingen uns durch den Kopf, wir hatten den Westen ja genau vor unserer Nase! Wir kannten ja auch spektakuläre Fluchtgeschichten. Es waren eigentlich nur ein paar hundert Meter zu überwinden – schon wären wir in der Lindenstraße in Kreuzberg. Vielleicht könnte man mit einem Drachen vom Dach unseres Hauses
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