Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Eingang war eine Gedenkecke. Fast wie ein Altar. In der Mitte ein Relief. Ein Männerkopf. „Julius Fucˇik“ stand darunter. Später erfuhr ich, dass er ein tschechischer Widerstandskämpfer gegen die Nazis gewesen war und auch mal in Bautzen gesessen hatte.
Durch enge Gänge ging es sehr zügig weiter, mal nach links, mal nach rechts. Ein paar Treppen hinunter in den Keller. Ein muffiger Geruch stieg mir entgegen. In einem Raum waren Wäscheberge aufgetürmt. Dort stand ein Häftling, der Kalfaktor, der mir meine Häftlingsbekleidung aushändigen sollte. Völlig verwaschene Klamotten. Auf dem Rücken, an den Ärmeln und den Seiten der Hosen gelbe Streifen. So würde ich also die nächsten zwei Jahre rumlaufen müssen. Der Kalfaktor und ein anderer Häftling, der noch dazukam, waren sehr neugierig auf den Neuankömmling.
„Na was haben sie dir denn aufgebrummt?“
„Drei Jahre.“
„Da brauchst du doch gar nicht erst auspacken, die kurze Zeit kannst du hier in der Wäschekammer verbringen!“
Drei Jahre sollen kurz sein? Wo bin ich denn hier schon wieder rein geraten? Der Kalfaktor hatte 15 Jahre wegen Spionage, und der andere Häftling 12. Sie erzählten mir noch, dass wir im Gefängnis Bautzen II wären, dass sich im Haus etwa 120 Häftlinge befänden, nicht sehr viele. Fast ausschließlich politische Gefangene, einige Wirtschaftsstraftäter und vereinzelte sonstige Kriminelle. Auch Frauen und Westdeutsche seien hier. Das mit den Frauen wusste ich ja schon, da meine Mutter mit mir im Transporter gefahren war. Westdeutsche Gefangene waren wegen Fluchthilfe, Spionage und manche wegen Drogen hier in diesem Gefängnis.
Nach etwa einer viertel Stunde kam ein älterer Wärter. „Kommen Sie mit!“ Ich folgte ihm durch eine Blechtür in ein Treppenhaus mit vielen ausgetretenen Stufen. Im vierten Stock schloss er eine Gittertür auf, die das Treppenhaus vom Flur trennte. Rechts war wiederum eine Stahltür, weiß gestrichen; in großen Buchstaben stand „Krankenrevier“ darauf. Der Wärter sagte: „Gehen Sie da ruhig rein, Sie werden nicht lange dort bleiben müssen.“ Das Krankenrevier diene gelegentlich als Eingangszelle.
Er ließ mich allein und schloss ab. Ich konnte meine neue Umgebung betrachten. Die Zellen waren kleiner als in der U-Haft. Alles sah etwas älter und heruntergekommener aus. Immerhin war das Bett keine harte Holzpritsche, sondern ein Armeebett mit Federn, die aber ziemlich ausgeleiert waren. Die Matratze hing ganz schön durch. Auch hier eine Toilette in der Ecke. An die Wand war ein Tisch angeschraubt, darüber hing eine Neonröhre an der Wand. Die Wände waren noch dicker als in der U-Haft. Das kleine Fenster an der Stirnseite war sehr weit oben, aber immerhin: Keine Glasbausteine! Ich konnte den Himmel sehen. Ein Trost. Neben der Tür hing die Hausordnung an der Wand. Wieder Gebote und Verbote. Interessant war aber, dass der Ort draufstand. „Hausordnung der StVE II Bautzen“. Ich war also wirklich in Bautzen II gelandet. Davon hatte ich schon einmal vor vielen Jahren, noch in Hannover, gelesen, im SPIEGEL. Ich wusste nicht mehr genau, was es mit diesem Gefängnis auf sich hatte; nur, dass es etwas Besonderes war.
Die Tür ging auf, der Wärter brachte eine Blechkanne und einen Teller mit zwei Scheiben Brot, einem Stück Butter und Wurst mit. Dazu Besteck aus Metall! Worüber man sich alles freuen kann! In der Kanne war aber der gleiche widerliche Muckefuck, den es schon in der U-Haft gegeben hatte. Ich brachte wie immer nur einen winzigen Schluck runter.
Nachmittags spielte plötzlich Radio. Das erste Mal seit 14 Monaten! Wo kam das her? Da, über der Tür war ein Lautsprecher mit einem kleinen Knopf. Den Sender konnte ich nicht verstellen, aber die Lautstärke. Ein Dreh am Regler und schon wurde es lauter: Getragene Trauermusik, nichts anderes. Sie hörte gar nicht auf. Was war das für ein Sender? Was war passiert? Die Nachrichten klärten mich auf: Der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Leonid Breschnew, war gestorben. Es war der 10. November 1982.
Der Abend kam, das Gebäude wurde von außen mit Scheinwerfern angestrahlt. Das Gitter vor dem Fenster warf seinen Schatten an meine Decke. Die Geräusche waren andere als in Berlin. Das Knallen der Riegel, das mich in Hohenschönhausen immer so erschreckt hatte, gab es hier nicht. Die Türen besaßen neben den Schlössern zur weiteren Sicherung nur kleine Haken und wurden im Allgemeinen leise auf- und zugeschlossen. Immer
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