Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
betrachtet, eine nicht allzu lange Spanne. Drei Jahre waren für mich, den damals 20-Jährigen, eine Ewigkeit. Also noch mal zwei Jahre Gefängnis. Sie hatten mir doch schon über drei Jahre meines Lebens gestohlen, ein Jahr in Untersuchungshaft, zweieinhalb Jahre draußen, im großen Gefängnis DDR. In zwei Jahren würde ich 22 sein, eine abgebrochene Lehre hinter mir haben, noch nie Sex gehabt haben, draußen ohne Eltern dastehen und vermutlich bald wieder im Gefängnis landen. Jeder Tag davon würde die Ewigkeit sein. War ich in einem Kafka-Roman gelandet? Warum hörte der Alptraum nicht auf?
Sie drehten das Recht, wie sie wollten. Damals, 1979, als es um die Staatsbürgerschaft der DDR ging, wurde ich nicht gefragt, ob ich meine Zustimmung dazu geben wollte. Im Gegenteil, ich habe zu jeder Sekunde deutlich gemacht, dass ich diese Staatsbürgerschaft ablehne und immer ablehnen würde. Das interessierte in dem Moment allerdings nicht.
Der ganze Prozess hätte niemals stattfinden dürfen. Mal abgesehen davon, dass das Verfahren mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar war, hätte es auch nach DDR-Recht so nicht stattfinden dürfen. Ich wurde sogar nach DDR-Recht unrechtmäßig zum DDR-Bürger gemacht – also war ich auch nie einer. Sie hielten mich unrechtmäßig in ihrem Machtbereich fest und versagten mir jegliche Hilfe. Das, was sie als Hilfe bezeichneten, wurde mir nur aufgezwungen und hätte nie zu einem normalen Leben geführt. Da ich gar kein DDR-Bürger war, hätte ich auch nach deren Recht nicht in diesem Verfahren verurteilt werden dürfen. Dass ich Hilfe von meinen Landsleuten erbeten hatte, mir aus dieser prekären Situation herauszuhelfen, ist doch das Natürlichste der Welt. Nach Meinung des Gerichts und der Machthaber der DDR habe ich dadurch, dass ich nichts mit der Stasi zu tun haben und nur zurück in meine vertrauten Verhältnisse wollte, „Verbrechen von erheblicher Gesellschaftsgefährlichkeit begangen“. Ich wollte doch nur nach Hause! An wen hätte ich mich denn sonst wenden sollen? Nur dafür wurde ich verurteilt.
Andererseits hatten wir jetzt nach all den Monaten der Ungewissheit, wie lange wir in dieser Situation leben müssten, erst einmal konkrete Zahlen. Wer „eine Zahl hat“, wie es im Knast-Jargon heißt, ist immer am Rechnen: Wie lange würden wir in Haft bleiben müssen? Der Vernehmer meinte, dass kaum ein Verurteilter seine volle Zeit absitzen müsste. Nach seiner Meinung würden wir also früher rauskommen. Nur wann? Nach der Hälfte der Zeit? Nach zwei Dritteln? Würden wir freigekauft werden? Leider hat man im Knast zu viel Zeit, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen.
Drei Wochen später, am 10. November 1982, hieß es dann: „Sachen packen!“ Auch dieser Termin eine neue Schikane: Drei Tage später hatte mein Vater Geburtstag, da wäre das erste Familientreffen seit Juli dran gewesen! Ich musste also wieder meine Zivilsachen anziehen und zum Gefangenentransporter gehen. Mir war kalt in der dünnen Sommerjacke, als ich in den Barkas stieg. Diesmal stand kein Besuch vom Anwalt oder von meinem Onkel an. „Rein da!“ Hinten rechts war eine kleine Zellentür offen, wieder mal musste ich rückwärts fahren. Ich hoffte, die Fahrt würde nicht lange dauern. Ohne Fenster, im Dunkeln, rückwärts, ich weiß heute nicht mehr wie ich das die ganze Strecke ausgehalten habe, ohne mich zu übergeben. Nach mir stiegen noch drei Gefangene zu. Natürlich sah ich niemanden von ihnen, aber ein Räuspern verriet, dass meine Mutter ebenfalls dabei war. Die Fahrt dauerte stundenlang. Durch die Stadt, über Landstraßen, über die Autobahn. Dann nur noch holprige Landstraßen. Nach ein paar Stunden wurde ein belegtes Brötchen und etwas zu trinken rein gereicht. Und weiter. Aber auch diese Fahrt endete irgendwann. Ich spürte und hörte, dass wir einige Tore passierten, der Motor ging aus.
Bautzen II
Plötzlich Licht, Bewegung. Die Augen schmerzten, die Knie. Einer der Wärter nahm mir die Handschellen ab. Wir standen in einem verwinkelten Innenhof, hinter uns ein großes Stahltor. Ich sah ein großes fünfstöckiges Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, grau wie die ganze DDR. Zwei Wärter übernahmen – einer rechts, einer links. Sie trugen blaue Uniformen. Also war ich nicht mehr bei der Stasi? Deren Uniform war ja grau. Blau war der normale Strafvollzug, Ministerium des Innern.
Rein ins Gebäude. Alles war älter, gammliger als in Berlin. Gleich hinter dem
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