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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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Meldung exakt nach Hausordnung, er fühlte sich dabei wohl wie ein alter Landser im Feld. Dabei reichte ein „Guten Morgen“ meist völlig aus; das konnte sich aber von Fall zu Fall plötzlich verändern. Um 9 Uhr wurde das Licht gelöscht. Das war sehr früh, unser Tagesablauf war aber auch zeitlich etwas verschoben.
    Wenn man Frühschicht hatte, wurde man um halb 4 Uhr morgens geweckt. Aufschluss der Türen, Licht an. Man hörte schon frühzeitig das Drehen der Schlüssel immer näher kommen. Die Türhaken blieben noch zu. Anziehen, frühstücken, dichter Zigarrenqualm. Zur Zählung wieder die Meldung des Stubenältesten. Danach lief jemand herum, machte alle Haken der Türen auf.
    „Raustreten zur Arbeit!“
    Auf dem Flur versammelten sich immer mehr Gefangene mit den gleichen verwaschenen Klamotten, wie ich sie anhatte. Ein durchtrainierter Mitgefangener trat an mich ran und stellte sich kurz vor.
    „Ich heiße Walter und bin hier der Brigadier. Du bist also einer der Neuen. Geh einfach mit runter, ich komme dann zu dir und zeige dir deinen Arbeitsplatz.“
    Laut in die Runde sagte er: „Stellt euch alle auf, damit ich Euch zählen kann.“
    Ständig wurde durchgezählt. Wie sollte denn hier jemand abhandenkommen? Das Gefängnis war völlig abgeschottet, selbst zur Arbeit hat man nicht das Haus verlassen, denn die Arbeitsräume lagen im Keller.
    Walter zählte und machte eine entsprechende Meldung. Der Obermeister zählte noch mal nach, ob alles stimmte. Dann ging es im Gänsemarsch viele Treppen hinunter in den Keller.
    Ich folgte Walter und der Mehrheit in eine sehr große Halle. Im oberen Drittel befanden sich große Fenster zum Innenhof. Zu sehen waren draußen aber nichts als Mauern. Drin, im Keller, diverse Geräte, Materialkisten, zwei große Tische. In den Kisten lagerten viele verschiedene Teile, deren Bedeutung sich mir nicht sofort offenbarte. Plastikteile, Schrauben, Metallkontakte… Am hinteren Tisch, der in den nächsten Monaten mein Arbeitsplatz sein sollte, waren acht Arbeitsplätze. Es war das „Leistungsband“, das Wolfgang erwähnt hatte. An vier Plätzen hingen elektrische Schrauber, die absolut vorsintflutlich aussahen. Walter schickte mich in die hintere Ecke. Ich sollte zunächst bei einem anderen Gefangenen mitmachen, um zu lernen, was zu tun war und dann dessen Platz übernehmen. Wir schraubten elektrische Schaltschütze für die Firma „VEB Oppach“ zusammen, das waren so eine Art große Relais, also elektrische Schalter. Sie wirkten ziemlich veraltet. Die anderen Tische lieferten unserem „Band“ zu. Das „Band“ waren kleine Bahnen, die durch auf den Tisch geschraubte Holzleisten gebildet wurden. Auf diesen Bahnen wurde die Schaltschütze weiter geschoben. Eine altertümliche Form des „Fließbands“ am Ende des 20. Jahrhunderts!
    Inzwischen hatten alle Leute ihre Arbeitsplätze eingenommen. Als die Arbeit losging, hob ein so schrilles und lautes Kreischen an, wie ich es selbst in der Werkstatt vom „VEB AutoTrans“ nicht erlebt hatte. Die Schrauber lärmten in so hohen Frequenzen, dass es kaum auszuhalten war. Es waren die unmodernsten, lautesten und störanfälligsten Geräte, die ich je gesehen und gehört habe . Wenn man das monate- oder sogar jahrelang aushalten soll, würde das bestimmt bleibende Schäden nach sich ziehen. Arbeitsschutz? Gehörschutz? Fehlanzeige!
    Ich hatte immerhin zunächst das Glück, nicht direkt an einem der lärmenden Schrauber eingesetzt zu werden. Ich musste Plastikteile mit Kontakten in Gestelle mit elektrischen Spulen einhängen. Und das in einem Höllentempo. Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, da mitzukommen, immer staute sich bei mir der Fluss; aber mit der Zeit ging es. Die Arbeit war so eingerichtet, dass jeder fast roboterhaft mehr oder weniger einfache Handgriffe zu erledigen hatte. Relativ schnell konnte man dann ein unglaubliches Tempo vorlegen. Mir war das recht; Hauptsache, ich hatte etwas zu tun; die Zeit verging dann schneller.
    Der Brigadier Walter war ein ganz schöner Antreiber. Fast immer, wenn er in den Arbeitsraum kam, rief er allen zu: „Los, los, ran! Wackeln! Leute! Wackeln! Ihr seid nicht zu Eurem Spaß hier! Wackeln! Oppach wartet! Bewegt Euch!“ Ich weiß nicht, ob er das vielleicht ironisch meinte. Ich glaube aber eher nicht. Mir machten diese Sprüche nichts aus, ich tat meine Arbeit. Mit der Zeit wurde ich so geübt im Splinte stecken und Kappen auflegen, dass ich immer schneller war als mein Nachbar,

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