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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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dass es sich bei RAUFEISEN um einen geworbenen Agenten des BND und des amerikanischen Geheimdienstes handelt, der im Zeitraum von Ende 1979 bis Anfang 1981 umfassende Einzelheiten seiner Dienstzugehörigkeit zum MfS, insbesondere 7 ihm bekannte Kundschafter und Kuriere sowie Arbeitsmethoden der HVA verriet.
    Weiterhin offenbarte RAUFEISEN Ende April 1980 in den Botschaften der BRD und der Republik Österreich in der Ungarischen Volksrepublik sowie im Februar 1981 beziehungsweise Mai 1981 gegenüber dem ARD-Korrespondenten PLEITGEN und dem ZDF-Korrespondenten JAUER in der DDR seine Zugehörigkeit zum MfS und Tatsachen aus seinem
    Einsatz als Kundschafter. Darüber hinaus bereitete RAUFEISEN durch eine Vielzahl von Handlungen seinen beabsichtigten ungesetzlichen Grenzübertritt vor.
    Die genannten Straftaten, die RAUFEISEN teilweise gemeinsam mit seiner Ehefrau
     
    RAUFEISEN, Charlotte (52)
    geb. am 24.1.1930 in Ahlbeck
     
    und seinem Sohn
     
    RAUFEISEN, Thomas (20)
    geb. am 16.7.1962 in Hannover
    die in gesonderten Verfahren bearbeitet wurden, beging, sind umfassend bewiesen.
    …
    Seitens der Anklagevertretung ist vorgesehen, für RAUFEISEN eine lebenslängliche Freiheitsstrafe zu beantragen.
    …
    Für RAUFEISEN, Charlotte ist ein Strafantrag von 7 Jahren und für RAUFEISEN, Thomas von 3 Jahren und 6 Monaten Freiheitsentzug beabsichtigt.
     
    In Übereinstimmung mit der Hauptabteilung II und der HVA ist vorgesehen, RAUFEISEN und seine Familienangehörigen zum gegebenen Zeitpunkt in zentrale Maßnahmen des Gen. Oberst Volpert einzubeziehen.
     
    Nach Mitteilung der HVA besteht für die von RAUFEISEN dem Gegner offenbarten Kundschafter und Kuriere keine Gefahr. Er verfügt auch über keinerlei weitere geheimzuhaltende Tatsachen und Kenntnisse als jene, die durch ihn bereits verraten wurden.
     
     
    Leistner
     
    Hauptmann
    Verteiler
    1. Ex. Genosse Minister
    2. Ex. Gen. Generaloberst Wolf
    …”
     
    Jeweils ein Exemplar für den Genossen Minister, also Erich Mielke persönlich, und auch den Genossen Generaloberst Markus Wolf. Die höchsten Stellen befassten sich also mit unserem Fall. Die Entscheidungen über Schuld oder Unschuld und über die zu verhängenden Freiheitsstrafen würden also kaum vom zuständigen Richter gefällt; sie waren vorher festgelegt. Erich Mielke fügte auf der ersten Seite handschriftlich ein „Einverstanden“ und seine Unterschrift hinzu. Damit war das Urteil Wochen vor dem Prozess gefällt.
    Die beiden letzten Absätze sind besonders interessant. Wenn man in „zentrale Maßnahmen des Gen. Oberst Volpert“ einbezogen wurde, hieß das nichts anderes, als dass wir für den Freikauf in den Westen freigegeben waren. Oberst Volpert war der Verbindungsmann zwischen der Führung der DDR und Wolfgang Vogel, der dann die Häftlinge auf seiner Liste hatte. Auch das Wissen meines Vaters stellte offensichtlich keine Gefahr mehr für aktuelle Agenten dar, so dass er ebenso wie meine Mutter und ich auf die Freikaufliste kommen sollten. Warum wurden wir dann aber nie freigekauft? Es ist bitter, dies heute zu lesen.
    Zu der Zeit wusste ich natürlich noch nicht, welche Strafen für uns vorgesehen waren, es gab nur die vage Andeutung des Anwalts. Ich saß an diesen Tagen in meiner Zelle und dachte daran, wie es meinem Vater wohl gerade ergehen würde. Er hatte mit dem Schlimmsten zu rechnen.
    Ein paar Tage später wurde ich zu meinem Vernehmer geholt, der mir das Urteil gegen meinen Vater mitteilte. Lebenslänglich. Mein Erschrecken stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Da versuchte er mir noch damit Mut zu machen, dass mein Vater ja noch Glück gehabt hätte: Nur aufgrund seiner großen Verdienste als „Kundschafter des Friedens“ wäre er mit einer Haftstrafe davongekommen; er sei ganz knapp an der Todesstrafe vorbeigeschrammt. Und dann fügte er noch sinnierend hinzu: Jeder liebe den Verrat, aber keiner den Verräter…
    Er wollte diesen Keulenschlag ein klein wenig abmildern. Er sagte mir, dass „lebenslänglich“ heutzutage ja nicht „bis ans Lebensende“ heißen müsste. Nach einer bestimmten Zeit könnte er durch Gnadengesuch auch wieder freikommen. Gerüchteweise hieß es später unter Gefangenen, sowas könnte frühestens nach 15 Jahren klappen. Für mich hieß lebenslänglich in diesem Moment allerdings ewig. Es wird nie mehr aufhören. Und was würde meine Mutter und mich in unserem Prozess erwarten? Was hatten die sich für uns ausgedacht? Warten. Ungewissheit. Warten.

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