Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Ungewissheit.
Etwa einen Monat später war dann unser Prozess angesetzt, für den 19. und 20. Oktober 1982. Eine Woche vorher mussten wir aber noch einen weiteren Schlag verkraften: Uns erreichte die Nachricht vom Tod meines Opas in Ahlbeck, dem Vater meiner Mutter. Ausgerechnet in dieser Zeit. Wir hatten zwar damit gerechnet, aber wenn die Nachricht dann kommt, ist es doch etwas anderes. Meine Oma hatte ihn schon fast ein Jahr lang pflegen müssen. Wir konnten sie die ganze Zeit nicht unterstützen, auch in dieser schweren Stunde nicht bei ihr sein. Jetzt war sie allein, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und ihr jüngster Enkel im Gefängnis. Das Strafmaß gegen ihren Schwiegersohn ließ nichts Gutes für ihre Tochter und den Enkel erwarten. Was hält der Mensch aus? Das fragte ich mich oft in dieser Zeit.
Unser Prozesstermin rückte näher. An dem Tag durfte ich wieder meine Zivilkleidung anziehen. Seltsam, nach über einem Jahr Schlabber-Look wieder eine Jeans zu tragen, eine Jeans mit Gürtel, dazu mein schwarzes Hemd.
Den Barkas-Transporter kannte ich ja inzwischen. Rein in die winzige Sitzbox, Handschellen um. Noch jemand stieg zu. Ein Hüsteln. Meine Mutter. Ich hustete zurück. Wir wurden wieder eine ganze Weile herumgefahren. Der Wagen stoppte. Wir stiegen aus, beide in Handschellen. Seit Juli hatte ich meine Mutter nicht mehr gesehen gehabt, fast ein halbes Jahr. Wir haben uns nur wortlos angeblickt.
Das Militär-Obergericht. Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt; die Zeit der Schauprozesse war lange vorbei. Das hieß aber nicht, dass der Gerichtssaal leer gewesen wäre. Im Zuschauerraum saßen etwa 20-30 Männer, alles Stasi-Leute, die sich das Schauspiel ansehen mussten, die meisten in Uniform. Meine Vernehmer waren auch unter ihnen. Es war wirklich nur ein Schauspiel. Vom Staatsanwalt wurden wir als die übelsten Verbrecher bezeichnet. Meistens musste meine Mutter als Hauptangeklagte die Fragen des Gerichts beantworten. Ihr wurde hauptsächlich vorgeworfen, Mitwisser meines Vaters und seiner Pläne gewesen zu sein. Sie ertrug die ganze Verhandlung ziemlich gefasst; aber ich habe auch gespürt, wie viel Kraft sie das kostete. Meine Mutter versuchte ja auch noch, mich ein bisschen mit Blicken zu beruhigen, oder mal mit einem Wort, soweit es ging. Denn ich war schon extrem nervös.
Ich musste nur hin und wieder etwas dazu sagen oder bestätigen. Warum ich so verblendet sei und warum ich mich im Betrieb bei meiner Ausbildung nicht mehr engagiert hätte. Auch hier wieder erschien mir alles unwirklich. Ein Film. Ein böser Traum. Zwei Tage lang. Der Richter ließ nie einen Zweifel daran, dass er uns für schuldig hielt. Vogels Beauftragter, Anwalt Starkulla, hatte wenig zu diesem Prozess beizutragen. Er bat nur um Milde für uns, da wir ja nicht die Hauptprotagonisten bei diesem „Verbrechen“ waren, sondern eher „Verführte“. Bei mir solle das Gericht doch mein jugendliches Alter in die Entscheidung mit einbeziehen. Viel bewirkt hat das aber nicht. Urteil und Urteilsbegründung stimmten fast exakt mit der Anklageschrift des Militär-Staatsanwaltes überein – inklusive der Strafhöhe.
Militärobergericht Berlin
- 1. Militärstrafsenat –
Im Namen des Volkes!
In der Strafsache
gegen
1. die Hausfrau
Raufeisen , Charlotte geborene Krüger
2. den Kfz-Schlosserlehrling
Raufeisen , Thomas
hat der 1. Militärstrafsenat des Militärobergerichts Berlin in der Hauptverhandlung vom 19. und 20. Oktober 1982
…
für Recht erkannt:
1. Die Angeklagte Raufeisen , Charlotte wird wegen Spionage, vollendeter und versuchter landesverräterischer Agententätigkeit und wegen versuchten und vorbereiteten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall … zu einer Freiheitsstrafe von
7 Jahren
verurteilt.
2. Der Angeklagte Raufeisen , Thomas wird wegen vollendeter und versuchter landesverräterischer Agententätigkeit und wegen versuchten und vorbereiteten ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall … zu einer Freiheitsstrafe von
3 Jahren
verurteilt.
…
Drei Jahre. Was hätte ich in der Bundesrepublik tun müssen, um eine solche Strafe zu bekommen? Vielleicht einen Menschen erschlagen? Mir fällt gleich mein „Zellengenosse“ ein, der Armee-Angehörige, der wegen fahrlässiger Tötung ebenfalls drei Jahre bekommen hatte. Er hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Und ich?
Drei Jahre. Es hämmerte in meinem Kopf. Drei Jahre sind, von heute aus
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