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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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der die Kappen festschrauben musste. Einerseits konnte ich mich so ein bisschen auspowern, es aber andererseits danach auch mal etwas ruhiger angehen lassen. Natürlich war der Lärm lästig, aber man gewöhnt sich ja an vieles.
    So plötzlich, wie der Lärm losging, verstummte er auch am Ende der Schicht. In einer unglaublichen Hektik räumten wir auf, fegten, wischten. An den drei Waschbecken im Vorraum herrschte Hochbetrieb. Drei Waschbecken für ca. 40 Leute. Es gab in diesem Arbeitsbereich auch nur eine einzige Toilette für alle. Entsprechend sah sie aus. Seinen Ekel musste man irgendwie wegdrücken. Immerhin war es hier möglich, eine kleine Holztür zu schließen; man musste nicht – wie in der Zelle – in aller Öffentlichkeit auf der Toilette sitzen. Nach über einem Jahr öffentlichem Toilettengang war das eine Form von „Hafterleichterung“.
    Walter zählt. Dann ruft er: „Ablauf!“ Im Gänsemarsch ging es los. Es war nicht weit, eine Treppe hoch ins Erdgeschoss. Hier sah ich auch einmal direkt den gesamten Zellentrakt mit Durchblick vom Erdgeschoß bis in den fünften Stock. Das hatte ich bisher nur in Knastfilmen gesehen. Genauso sah es aus. Es war nicht weit bis zur Kantine. Einige Tische und Hocker, an der Seite eine Luke, an der wir uns anstellten. Hinter der Luke stand ein Gefangener mit weißer Jacke und Mütze. Mit einer Kelle hievte er ein kleines Stück Fleisch, eine undefinierbare Soße und ein Berg Kartoffeln auf die Teller. Bald war mir klar: Das Essen hier war noch schlechter als in der Untersuchungshaft. Bloß gut, dass man die Möglichkeit hatte, etwas dazu zu kaufen. Nach dem Essen öffnete der Kiosk. Ein kleines mageres Männlein, immer etwas schüchtern und verstört wirkend, stand darin. Alle nannten ihn „Koofmich“. Bei ihm gab es Kaffee, Tee, Zigaretten, Süßigkeiten, aber auch Wurst, Käse, Milch. Sogar grüne Bohnen oder Erbsen im Glas und auch eingewecktes Obst, z.B. Kirschen, konnte man bei ihm kaufen. Dazu bot er noch Briefpapier, Kugelschreiber und Ansichtskarten von Bautzen an. Letzteres fand ich schon etwas zynisch. Viele Leute behandelten den „Koofmich“ etwas von oben herab. Das habe ich nicht verstanden. Ich behandelte ihn immer freundlich, was er nach einiger Zeit dadurch belohnte, dass ich hin und wieder „Bückware“ unter dem Siegel der Verschwiegenheit von ihm erhielt. Er sagte dann zu mir: „Thomas, ich habe hier was für Dich. Gib mir drei Mark.“ Ich sah in dem Moment gar nicht, was in der Papiertüte steckte; er verbarg es vor den anderen, denn wie immer gab es nicht genug von der begehrten Ware. Meistens handelte es sich um besondere Wurst, Käse oder auch um ein Stück Speck. Wieder Zählung. Ist keiner abhanden gekommen oder aus Versehen aufgegessen worden? „Ablauf!“ Im Gänsemarsch hoch in den vierten Stock in die Zellen. Um14 Uhr.
    In der Zeit, als ich am Fließband arbeitete, etwa eineinhalb Jahre lang, verdiente ich im Schnitt etwa 250,- bis 300,- Mark. Ein sehr hoher Verdienst für Knastverhältnisse. – und etwa ein Drittel dessen, was ein Facharbeiter damals draußen verdiente. Damit konnte ich mich gut im kleinen Kiosk mit zusätzlichen Lebensmitteln, Süßigkeiten und auch Kosmetika versorgen. Nach ein paar Wochen in Bautzen tat sich aber noch eine andere Bezugsquelle für begehrte Waren auf. Ingo, einer der Gefangenen, die für den Transport des Materials zuständig waren, war ein äußerst umtriebiger Geschäftsmann. Die Transportarbeiter kamen im ganzen Haus herum, besaßen also Kontakte zu allen Gefangenen. Eine Ausnahme bildete wieder nur der Isolations-Trakt, in dem sich unter anderem mein Vater befand. Ingo sagte zu mir:
    „Wenn du mal irgendetwas Besonderes brauchst: Ich kann dir immer mal was besorgen. Kostet ein bisschen was, aber am Band verdienst du ja gut.“
    In der Folgezeit habe ich immer mal wieder bei ihm gekauft. Kaffee, Zahnpasta und Duschbad bzw. Shampoo bezog ich nur von ihm. Alles Westware! Eine Tube Zahnpasta, ein Duschbad oder Shampoo kosteten jeweils 10 Mark, ein Päckchen Kaffee 20 Mark. Teuer – aber eben die bessere Westware. Auch eine Colgate-Zahnpasta konnte mir ein gewisses heimatliches Gefühl vermitteln, es war etwas Vertrautes, an so kleinen Dingen hing man im Gefängnis. Woher hatte Ingo das alles? Im Gefängnis gab es auch viele Gefangene aus dem Westen. Sie waren in einem abgetrennten Arbeitskommando untergebracht, wir hatten keinen direkten Kontakt zu ihnen, aber Ingo traf sie jeden Tag.

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