Der Tag der Ameisen
Während am Abend alle Arbeiterinnen schlafen gehen, verlassen die mit den Würmern kontaminierten Ameisen ihre Stadt. Schlafwandlerisch laufen sie voran und steigen auf die Spitzen der Halme, um sich dort festzuhalten.
Und nicht auf irgendwelche Halme! Sondern auf diejenigen, die die Schafe am liebsten haben: Luzerne und Hirtentäschel.
Zum Erstarren gebracht, warten die Ameisen darauf, gefressen zu werden. Das ist die Aufgabe des Wurms im Gehirn: Seinen Wirt jeden Abend zum Verlassen des Nests zu bewegen, damit er von einem Schaf gefressen wird. Denn wenn die Ameise, sobald am Morgen die Wärme wiederkommt, nicht von einem Schaf verzehrt worden ist, gewinnt sie die Kontrolle über ihr Gehirn und ihren freien Willen wieder. Sie fragt sich, was sie da oben auf einem Grashalm zu suchen hat. Geschwind klettert sie wieder herunter, um in ihr Nest zurückzukehren und ihre gewohnten Pflichten zu erfüllen. Bis zum nächsten Abend, an dem sie als der Zombie, zu dem sie geworden ist, gemeinsam mit ihren von Würmern infizierten Genossinnen wieder das Nest verläßt, um aufs Gefressenwerden zu warten.
Dieser Zyklus stellt die Biologen vor zahlreiche Probleme.
Erste Frage: Wie kann der im Gehirn versteckte Wurm nach draußen sehen und der Ameise befehlen, auf diese oder jene Pflanze zu klettern? Zweite Frage: Der Wurm, der das Gehirn der Ameise lenkt, stirbt, sobald das Schaf die Ameise verschluckt – und zwar er allein. Warum opfert er sich auf diese Weise? Alles läuft so ab, als würden die Würmer es hinnehmen, daß einer von ihnen, und zwar der beste, stirbt, damit alle anderen ihr Ziel erreichen und den Fortpflanzungszyklus vollenden.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
129. SCHWEIßGEBADET
Am ersten Tag kam niemand, um über das Trugbild von Professor Takagumi herzufallen.
Jacques Méliès und Laetitia Wells schafften sich Vorräte von selbsterhitzten Konserven und dehydrierten Nahrungsmitteln an. Sie hatten sich wie für eine Belagerung eingerichtet. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielten sie Schach. Laetitia konnte es besser als Méliès, dem grobe Schnitzer unterliefen.
Wütend über die Überlegenheit seiner Partnerin, zwang er sich dazu, sich besser zu konzentrieren. Er stellte seine Steine in Verteidigungshaltung auf, mit Bauernlinien, die jegliche gegnerische Initiative blockierten. Die Partie wurde bald zu einer Grabenschlacht à la Verdun. Die Läufer, die Springer, die Dame und die Türme wurden daran gehindert, Blitzattacken zu führen, und hoben einander auf.
»Selbst beim Schachspielen haben Sie Bammel!« rief Laetitia.
»Ich und Bammel?« entrüstete Méliès sich. »Sobald ich ein bißchen Platz lasse, brechen Sie durch meine Linien. Wie soll ich denn sonst spielen?«
Plötzlich erstarrte sie, einen Finger auf den Lippen, und forderte ihn auf zu schweigen. Sie glaubte ein leises Geräusch gehört zu haben, irgendwo im Zimmer des Hotels Beau Rivage.
Sie blickten auf die Kontrollschirme. Nichts. Und doch war Laetitia Wells sich sicher, daß der Mörder da war. Das Blinken des Bewegungsdetektors bestätigte es.
»Der Mörder ist da«, flüsterte sie.
Die Augen auf den Kontrollschirm geheftet, rief der Kommissar: »Ja. Ich sehe ihn. Es ist eine einzelne Ameise. Sie klettert auf das Bett!«
Laetitia warf sich auf Méliès Hemd, knöpfte es schnell auf, hob ihm die Arme hoch, zog ein Taschentuch heraus und tupfte damit mehrmals die Achselhöhlen des Polizisten ab.
»Was ist denn in Sie gefahren?«
»Lassen Sie mich machen. Ich glaube, ich habe verstanden, wie unsere Killerin vorgeht.«
Sie stieß die Scheinwand zur Seite, und noch ehe die Ameise die Höhe der Tagesdecke erreicht hatte, rieb sie die Puppe mit dem Taschentuch ein, das mit dem Schweiß aus den Achselhöhlen von Méliès getränkt war. Dann versteckte sie sich schnell wieder neben ihm.
»Aber …« fing er an.
»Seien Sie still und schauen Sie.«
Die Ameise auf dem Bett näherte sich der Puppe. Sie schnitt ein winziges viereckiges Stück aus dem Schlafanzug des angeblichen Professors Takagumi. Dann verschwand sie, wie sie gekommen war: durchs Badezimmer.
»Ich begreife nichts«, meinte Méliès. »Die Ameise hat unseren Mann doch nicht angegriffen. Sie hat sich damit zufriedengegeben, ein kleines Stück Stoff mitzunehmen.«
»Das war für den Geruch, bloß für den Geruch, Kommissar.«
Da sie die Leitung der Operation übernommen zu haben schien, fragte er: »Und was tun wir
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