Der Tag der Ameisen
Fluß. Auf halbem Weg zwischen den beiden Ufern liegt eine kleine Insel mit einem Baum in der Mitte.
Die Luftreiterinnen gleiten über das Wogen des Flusses. Die Beine der Nashornkäfer streichen über die Gischt der Wellen.
Doch Nr. 103 findet noch immer nicht Satäi, den berühmten Hafen, der in Wirklichkeit ein unterirdischer Gang ist, durch den man unter dem Fluß durchgehen kann. Die Kreuzzüglerinnen müssen vom vorgesehenen Weg abgekommen sein, und zwar weit. Sie werden lang marschieren müssen.
Die fliegenden Kundschafterinnen kehren zurück und verkünden, daß alles in Ordnung sei, daß man weiterziehen müsse.
Wie ein Sirupstrom steigt die Armee den Steilhang hinab: Die Ameisen mit Hilfe der klebrigen Ankerborsten an ihren Beinen, die Käfer flatternd, die Bienen im Sturzflug und die Mücken krakeelend.
Unten erstreckt sich ein Strand mit feinem, beigem Sand und hellen Dünen, auf denen ein paar vereinzelte Grashalme wachsen, aber vor allem Strandhafer und Sandpilzsporen. Gute Speisen für die Ameisen.
Nr. 103 sagt, daß man, um den Hafen von Satäi zu erreichen, die Böschung entlang nach Süden ziehen müsse. Die Karawane setzt sich in Bewegung.
Zusammen mit den anderen Nashornkäfern setzt sich
»Großes Horn« vom Gros der Truppe ab. Sie hätten eine Mission zu erfüllen, sagen sie, und würden später wieder zu den anderen stoßen.
Beim Vormarsch entdecken die Aufklärerinnen weiße Klümpchen, die gut nach Schnecken riechen. Sie haben genug vom Strandhafer, und diese Eier sehen lecker aus. Nr. 9 warnt sie. Bevor sie etwas futterten, müsse erst geprüft werden, ob die Nahrung nicht giftig sei. Einige hören auf sie, andere fressen sich voll.
Was für ein Irrtum! Es sind keine Eier, sondern Schneckenspucke. Und dazu noch Schneckenspucke, die mit Würmern infiziert ist!
128. ENZYKLOPÄDIE
ZOMBIES: Der Zyklus des großen Leberwurms (Fasciola hepatica) bietet sicher eines der größten Geheimnisse der Natur. Dieses Tier würde einen ganzen Roman verdienen. Wie sein Name sagt, handelt es sich um einen Parasiten, der in der Leber von Schafen gedeiht. Der Wurm ernährt sich von Blut und Leberzellen und legt seine Eier dort ab. Doch in der Schafleber können die Eier nicht keimen. Es erwartet sie eine regelrechte Rundreise.
Die Eier verlassen ihren Wirt auf dem gleichen Weg wie die Exkremente. Sie gelangen in die kalte und trockene Außenwelt.
Nach der Reifezeit schlüpft aus ihnen eine winzige Larve.
Diese wird von einem neuen Wirt verspeist: der Schnecke.
Im Körper der Schnecke vermehren sich die Wurmlarven, ehe sie mit dem Schleim ausgestoßen werden, den der Bauchfüßler an Regentagen ausspuckt.
Doch damit haben sie erst die Hälfte ihres Weges zurückgelegt.
Dieser Schleim in Form von weißen Perlentrauben zieht häufig Ameisen an. Dank dieses »trojanischen Pferdes«
dringen die Würmer in den Insektenorganismus ein. Im Sozialkropf der Ameisen bleiben sie aber nicht lang. Sie verlassen ihn wieder, indem sie Tausende von Löchern in ihn bohren und so in ein Sieb verwandeln, das sie mir einem Leim abdichten; dieser Leim wird hart und ermöglicht es der Ameise, den Vorfall zu überleben. Die Ameise darf daran nicht eingehen; sie ist unabdingbar, um den Kreis zum Schaf zu schließen. Außerdem läßt nichts erahnen, welches Drama sich im Inneren des Ameisenkörpers abspielt, in dem die Larven sich entwickeln.
Aus den Larven werden schließlich Würmer, die in die Leber eines Schafs zurückkehren müssen, um den Wachstumskreislauf zu vervollständigen.
Doch was tun, damit ein Schaf eine Ameise verschlingt, wo es doch kein Insektenfresser ist?
Generationen von Würmern haben sich die Frage stellen müssen. Das Problem war um so schwieriger zu lösen, als die Schafe nur in den kühlen Stunden die hohen Gräser abweiden und die Ameisen in den warmen Stunden ihr Nest verlassen, um im kühlen Schatten der Wurzeln dieser Gräser zu wandern.
Wie sie am gleichen Ort und zur gleichen Stunde zusammenbringen?
Die Würmer haben das Problem so gelöst, daß sie sich im Körper der Ameise verteilen. Etwa zehn richten sich im Brustkorb ein, etwa zehn in den Beinen, etwa zehn im Hinterleib und ein einziger im Gehirn.
Sobald sich dieser eine Wurm im Gehirn der Ameise festsetzt, verändert diese ihr Verhalten … Jawohl! Dieser primitive kleine Wurm, der dem Pantoffeltierchen nahesteht und damit einem der niedersten Einzeller, steuert von nun an die so komplizierte Ameise.
Ergebnis:
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