Der Tag der Ameisen
Videokameras ein, mit denen das Zimmer gespickt war.
»›Sie‹ nähern sich dem Bett.«
Vor der Kamera, die sich in Bodenhöhe befand, erschien die Schnauze einer zerzausten Maus, die nach Nahrung suchte.
Sie brachen in Lachen aus.
»Schließlich sind die Ameisen ja nicht die einzigen Tiere, die bei den Menschen leben«, rief Laetitia aus. »Diesmal lege ich mich aber endgültig hin, und wecken Sie mich erst, wenn Sie mir was zu zeigen haben, das ernstzunehmender ist.«
133. ENZYKLOPÄDIE
ENERGIE: Wenn man auf einem Jahrmarkt in eine Achterbahn steigt, hat man zwei Möglichkeiten zur Wahl. Die eine: sich in einen hinteren Wagen zu setzen und die Augen zuzumachen. In diesem Fall empfindet der Freund heftiger Gefühle eine ungeheure Angst. Er ist der Geschwindigkeit ausgeliefert, und jedesmal, wenn er die Lider halb öffnet, wird seine Furcht verzehnfacht.
Die zweite Möglichkeit sieht so aus, daß man sich vorne in den ersten Wagen setzt, die Augen weit aufsperrt und sich vorstellt, man würde fliegen und immer schneller werden. In diesem Fall empfindet der Genießer einen Eindruck von berauschender Macht. Ebenso wirkt Hard Rock, wenn er aus einem Lautsprecher schrillt und man nicht darauf vorbereitet ist, gewalttätig und ohrenbetäubend. Man erträgt ihn mehr schlecht als recht. Wenn man es jedoch will, braucht man dieser Energie nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern kann sie zum eigenen Nutzen einsetzen. Der Zuhörer ist dann wie gedopt und von dieser muskulösen Gewalt in Hochspannung versetzt.
Alles, was Energie freisetzt, ist gefährlich, wenn man ihm ausgeliefert ist, und bereichert, wenn man es zum eigenen Nutzen kanalisiert.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
134. DER TOTENKULT
Die zwölf letzten Gottgläubigen haben sich in ihrem neuen Schlupfwinkel versammelt, den sie in der Nähe der Kompostgräben in Bel-o-kan provisorisch eingerichtet haben.
Sie denken über ihre Toten nach.
Königin Chli-pu-ni ist entschlossen, alle Rebellinnen umzubringen. Eine nach der anderen werden sie gefaßt, während sie die Finger zu ernähren versuchen. Alle Ungläubigen sind verschwunden, und die Rebellinnenbewegung wird nur durch die paar Gottgläubigen vertreten, die wundersamerweise die Überschwemmung und die Verfolgungen überlebt haben.
Niemand hört mehr auf sie. Niemand mehr schließt sich ihnen an. Sie sind zu Parias geworden und wissen, daß es mit ihnen aus ist, sobald die Wachen ihren Bau entdecken.
Mit ihren Antennenspitzen stupsen sie drei Leichen ehemaliger Gefährtinnen an, die sich zum Sterben bis hierher geschleppt hatten. Die Gottgläubigen machen sich bereit, sie zur Müllhalde zu bringen.
Plötzlich erhebt eine von ihnen Einspruch. Verdutzt wird sie von den anderen gemustert. Wenn man diese Märtyrerinnen nicht auf den Müll wirft, stinken sie in ein paar Stunden nach Ölsäure.
Die Rebellin bleibt stur. Die Königin bewahre ja auch die Leiche ihrer toten Mutter in ihrem Gemach auf. Warum es ihr nicht gleichtun? Warum nicht die Leichen der Freundinnen aufbewahren? Je mehr es davon gebe, um so mehr beweise das, daß die Bewegung der Gottgläubigen eine große Schar Mitstreiterinnen gehabt habe.
Die zwölf Ameisen tasten ihre Fühler ab. Was für ein überraschender Einfall! Die Leichen nicht mehr wegwerfen …
Alle gemeinsam treten sie in Absolute Kommunikation.
Vielleicht hat ihre Schwester ja einen Weg gefunden, der Bewegung der Gottgläubigen neuen Schwung zu verleihen. Die Toten aufbewahren, das wird vielen gefallen!
Eine Rebellin schlägt vor, sie in den Mauern zu bestatten, damit sich ihr Ölsäuregeruch nicht verbreitet. Damit ist diejenige, die den Einfall hatte, nicht einverstanden: Nein, im Gegenteil, man muß sie sehen. Tun wir es der Königin Chli-pu-ni nach. Weiden wir das Fleisch aus und bewahren wir nur die hohlen Panzer auf.
135. DER TERMITENHÜGEL
Die Termiten suchen eiligst das Weite.
Attacke! schreit Nr. 103 von »Großes Horn« herunter, um ihre Kreuzzüglerinnen zum Kampf anzufeuern.
Laufschritt! gibt Nr. 9 aus, ebenfalls von ihrem Flugroß herunter.
Die Luftartilleristinnen schießen pausenlos, Säure und Tod säend. Auf der Seite der Termiten herrscht ein heilloses Durcheinander. Alle laufen Zickzack, um den Himmelsungeheuern und den tödlichen Salven ihrer Pilotinnen zu entwischen. Jede kämpft nur noch für sich. In völliger Auflösung galoppieren die Termiten auf ihre Stadt zu, einer großen
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