Der Tag der Ameisen
tausendzweihundert sind noch übrig und vermeinen, bald dem gleichen schrecklichen Schicksal zu begegnen.
Sind sie verloren?
Nein, denn Nr. 103 sieht in der Ferne eine zweite Wolke auftauchen. Diesmal sind es Freunde. »Großes Horn« ist zurückgekommen und hat die schreckenerregendste Armee im Schlepptau.
Sie kreisen lärmend über ihnen, und alle erblicken sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen. Das sind wahrhaftige Dämonen, entsprungen aus einer mittelalterlichen Höllenvision.
Herrlich rasen sie dahin, klappern und rasseln mit all ihren lackierten Gelenken.
Darunter finden sich Dreihornmistkäfer, Neptunkäfer, Maikäfer und große fliegende Hirschkäfer mit ihren Zangen-hörnern.
Es ist eine elitäre Auswahl der erstaunlichsten Vertreter aus der Familie der Käfer, die dem Ruf des »Großen Horns«
gefolgt sind.
Diese prächtigen Ungetüme sind mit Piken, Lanzen, Hörnern, Spitzen, Schilden und Krallen ausgerüstet. Ihre Deckflügel sind farbig wie Wappen, einige haben auf dem Rücken rosa und schwarz gezeichnete Fratzen, andere tragen fluoreszierende Flecken.
Kein Schmied könnte derartige Rüstungen erschaffen. Ihre Helme verleihen ihnen das Aussehen wackerer Prinzen, wie aus einem Bilderbuch-Mittelalter.
Unter dem Kommando von »Großes Horn« vollführen die etwa zwanzig Käfer eine Kehrtwende. Sie beziehen Stellung und stürzen sich dann auf die dichtesten Rotten von Termitensoldatinnen.
Noch nie hat Nr. 103 etwas so Aufregendes gesehen.
Verblüffung in den Reihen der Termiten. Bei dieser neuen Waffe funktioniert ihr Leim nicht mehr. Die flüssigen Projektile gleiten an den dicken, gehämmerten Harnischen ab.
Die Termiten blasen zum Rückzug.
»Großes Horn« landet neben Nr. 103.
Steig auf!
Abflug.
Unter den Beinen ihres Luftrosses zieht sich das Schlachtfeld wie ein tobendes Fließband dahin.
Nr. 103 setzt sich an die Spitze ihres Heeres, um die Verfolgung der Flüchtigen aufzunehmen. Von ihrem Fluggefährt herab feuert sie genau gezielte Schüsse, die jedesmal ins Schwarze treffen.
Feuer! brüllt sie aus Leibeskräften. Feuer!, und die Ameisen verschießen rennend ihre Säure.
131. MILITÄRSTRATEGISCHES PHEROMON
Gedächtnispheromon Nr. 61
Thema: Militärstrategie
Datum der Einspeichelung: 44. Tag des Jahres 100000667
Jede Militärstrategie versucht zunächst, den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Instinktiv versucht dieser, den Stoß durch Einsatz entgegengerichteter Kräfte zu kompensieren.
Doch statt ihn abzublocken, muß man die Bewegung des Gegners verstärken, bis er durch seinen eigenen Schwung fortgerissen wird.
Einen kurzen Moment lang ist der Gegner dann besonders verwundbar. Das ist der Augenblick, um ihm beizukommen.
Verpaßt man diesen Moment, muß man wieder von vorn beginnen, doch dann wird der Feind viel mißtrauischer.
132. KRIEG
Feuer!
Einige vage, schwarze Silhouetten laufen durch das heftige Geschützfeuer.
Die Panzer der Besiegten rauchen. Die Soldaten graben sich ein, um nicht zerfetzt zu werden. Einige Gruppen verstecken sich in den Dünen.
Granatengetöse. Maschinengewehrgeknatter. In der Ferne steigt schwerer schwarzer Rauch von den brennenden Ölquellen empor, durch den keine Sonne mehr dringt.
»Machen Sie das aus. Das reicht!«
»Mögen Sie keine Nachrichten?« fragte Méliès und stellte die Lautstärke des Fernsehers leiser, wo gerade die täglichen Weltnachrichten liefen.
»Die menschliche Dummheit ermüdet einen schnell«, meinte Laetitia. »Noch immer nichts?«
»Noch immer nichts.«
Die junge Frau wickelte sich in eine Decke ein.
»Dann schlafe ich ein bißchen. Wenn sich was tut, wecken Sie mich auf, Kommissar.«
»Das tue ich hiermit. Einer der Bewegungsdetektoren hat sich gerade eingeschaltet.«
Beide beobachteten die Bildschirme.
»In dem Zimmer bewegt sich was.«
Sie schalteten nacheinander die Videomonitore ein, sahen aber nichts.
»›Sie‹ sind da«, verkündete Méliès.
»›Er‹ ist da«, korrigierte Laetitia ihn. »Es ist nur ein Signal auf dem Bildschirm zu sehen.«
Méliès machte eine Flasche Mineralwasser auf. Er fuhr sich für alle Fälle noch einmal mit einer feuchten Kompresse unter den Armen entlang und bestäubte sich mit Parfüm, um jegliches Risiko auszuschließen.
»Rieche ich noch nach Schweiß?« fragte er.
»Sie duften nach Babyöl.«
Sie sahen noch immer nichts, aber jetzt hörten sie eine Art Kratzen auf dem Fußboden.
Jacques Méliès schaltete die Mikros der
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