Der Tag der Ameisen
aufgestöbert haben, kann ich das Geheimnis nicht länger bewahren. Ich will Ihnen alles erzählen.«
159. KLARSTELLUNG
»Nicolas, ich muß mit dir reden.«
Das Kind senkte den Kopf und erwartete die väterliche Standpauke.
»Ja, Papa, das war nicht gut von mir«, sagte er folgsam. »Ich tu’s auch nie wieder.«
»Über deine Schliche will ich jetzt gar nicht sprechen, Nicolas«, erwiderte Jonathan mild. »Sondern von unserem Leben hier unten. Du hast dich entschieden, ›normal‹
weiterzuleben, wenn man das so sagen kann, während wir uns entschieden haben, uns wie ›Ameisen‹ zu verhalten. Einige von uns sind der Meinung, daß du dich an unseren Gemeinschafts-sitzungen beteiligen mußt. Ich finde, daß wir dich erst über unsere Gemütsverfassung aufklären sollten, um dir dann die freie Wahl zu lassen.«
»Ja, Papa.«
»Verstehst du, was wir da tun?«
Der Junge murmelte mit gesenktem Blick: »Ihr setzt euch in einen Kreis, ihr singt zusammen und ihr eßt immer weniger.«
Der Vater hatte sich darauf eingestellt, Geduld zu zeigen.
»Das sind nur die äußeren Aspekte unseres Tuns. Es gibt noch andere. Sag mir, Nicolas, wie viele Sinne hast du?«
»Fünf.«
»Und die wären?«
»Gesichtssinn, Gehörsinn … äh, Tastsinn, Geschmackssinn und Geruchssinn«, zählte der Junge wie beim Abhören in der Schule auf.
»Und weiter?« fragte Jonathan.
»Na ja, das ist alles.«
»Sehr schön. Du hast mir fünf Körpersinne genannt, die es uns ermöglichen, die physische Wirklichkeit wahrzunehmen.
Es gibt aber noch eine Wirklichkeit, eine psychische, und die kann man dank der fünf psychischen Sinne erfassen. Wenn du dich mit deinen fünf Körpersinnen zufrieden gibst, so ist das, als würdest du nur die fünf Finger deiner linken Hand benutzen. Warum nimmst du nicht auch die fünf Finger deiner rechten Hand dazu?«
Davon war Nicolas zumindest verblüfft:
»Welche sind denn das, die fünf psychischen Sinne, wie du es nennst?«
»Empfindung, Vorstellungsvermögen, Intuition, universelles Gewissen und Inspiration.«
»Ich hab gedacht, mit meinem Kopf denke ich eben, und aus.«
»Aber nein. Es gibt unzählige Arten zu denken. Unser Gehirn ist wie ein Computer. Man kann es so programmieren, daß es phantastische Sachen macht, die man sich kaum vorstellen kann. Es ist ein Instrument, das uns zur Verfügung steht, dessen vollständige Gebrauchsanweisung wir aber nicht begriffen haben. Im Moment nutzen wir so etwa 10% davon. In tausend Jahren können wir vielleicht 50 % nutzen und in einer Million Jahren 90 %. In unserem Kopf sind wir noch Babys.
Wir begreifen erst die Hälfte von dem, was um uns vorgeht.«
»Da übertreibst du aber. Die moderne Wissenschaft …«
»Nein, nein! Die Wissenschaft ist nichts. Sie ist bloß dazu gut, die Leute zu beeindrucken, die sich nicht damit auskennen.
Die wahren Wissenschaftler wissen, daß wir nichts wissen, und daß wir, je größere Fortschritte wir machen, nur immer deutlicher unsere Unwissenheit erkennen.«
»Aber Onkel Edmond hat doch viel gewußt …«
»Nein. Onkel Edmond weist uns den Weg zu unserer Emanzipation. Er zeigt uns, wie man sich Fragen stellen muß, aber er liefert uns die Antworten nicht mit. Wenn man anfängt, die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens zu lesen, bekommt man das Gefühl, alles besser zu verstehen. Doch wenn man dann weiterliest, bekommt man das Gefühl, von nichts mehr etwas zu verstehen.«
»Ich finde aber schon, daß ich verstehe, was in dem Buch steht.«
»Da hast du aber Glück.«
»Er spricht von der Natur, den Ameisen, dem Weltall, dem Sozialverhalten, den Auseinandersetzungen zwischen den Arten auf der Erde … Ich habe sogar Küchenrezepte und Rätsel gefunden. Wenn ich das Buch lese, komme ich mir klüger vor und allmächtig.«
»Da kannst du dich wirklich glücklich schätzen. Je mehr ich lese, um so deutlicher wird mir, wie vieles unbegreiflich ist, und wie weit wir von unseren Zielen entfernt sind. Sogar das Buch hilft uns nicht weiter. Es besteht nur noch aus einer Folge von Wörtern, die sich ihrerseits wieder aus Buchstaben zusammensetzen. Die Buchstaben sind Zeichen, und die Wörter versuchen, die Dinge, die Ideen und die Tiere, für die sie stehen, zu erfassen. Das Wort ›weiß‹ hat seine eigene Schwingung, aber der Begriff ›weiß‹ wird in anderen Sprachen durch andere Wörter ausgedrückt: blanco, white, usw. Das beweist, daß das Wort ›weiß‹ nicht genügt, um die Farbe zu definieren.
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