Der Tag der Ameisen
Es ist eine Annäherung, die irgendwann mal von wer weiß wem erfunden worden ist. Die Bücher sind Folgen von Wörtern, die Bücher sind Folgen lebloser Symbole, Folgen von Annäherungen …«
»Aber die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
… «
»Die Enzyklopädie ist verglichen mit dem gelebten Leben nichts. Kein Buch kann je einem Augenblick des Nachdenkens über das gegenwärtige Geschehen gleichkommen.«
»Jetzt verstehe ich dein Gerede nicht mehr!«
»Entschuldige, das war ein bißchen schnell. Sagen wir, daß du mir zuhörst, wenn ich mit dir spreche, und daß das schon wichtig ist.«
»Natürlich hör ich dir zu. Warum soll ich dir nicht zuhören?«
»Zuhören ist etwas sehr Schwieriges … es erfordert große Aufmerksamkeit.«
»Du bist komisch, Papa.«
»Entschuldige, ich habe mich nicht auf dich eingestellt. Ich möchte dir was zeigen. Mach die Augen zu und hör mir gut zu.
Stell dir eine Zitrone vor. Siehst du sie? Sie ist gelb, sehr gelb, sie glänzt in der Sonne. Sie ist rauh und riecht stark. Merkst du den Duft?«
»Ja.« »Gut. Jetzt nimmst du ein spitzes und scharfes großes Messer. Du schneidest die Zitrone in Scheiben: Die Zitrone geht auf. In der Scheibe ist im Sonnenlicht ein richtiges Netz aus saftigem Fruchtfleisch zu sehen. Du drückst auf die Scheibe und siehst, wie das Fruchtfleisch zerplatzt, der Saft herausläuft, gelb, duftend … Riechst du es?«
Nicolas läßt die Augen zu.
»Ja, ja.«
»Gut, jetzt sag mir, ob dir das Wasser im Mund zusammen-läuft?«
»Ah«, er schnalzte mit der Zunge, »ja, hinten ist mein Mund ganz voll Spucke. Wie kann das sein?«
»Das ist die Macht deiner Gedanken über deinen Körper.
Siehst du, bloß weil du an eine Zitrone denkst, kannst du einen physiologisch unkontrollierbaren Effekt auslösen.«
»Das ist ja großartig.«
»Es ist ein erster Schritt. Wir brauchen uns nicht als Götter auszugeben, wir sind es schon lange und wissen es nicht.«
Der Junge war begeistert.
»Ich will lernen, so wie ihr zu sein. Bitte, Papa, bring mir bei, wie ich alles mit meinem Verstand kontrollieren kann. Bring’s mir bei. Was muß ich machen?«
160. DIE BÜSCHELKÄFERDROGE
Die Bürgerkriege in der Stadt nehmen immer größere Ausmaße an. Die gottgläubigen Rebellinnen haben ein ganzes Viertel besetzt – das mit den Zisternenameisen. Von dort aus versorgen sie die Finger ununterbrochen mit Honigtau.
Paradoxerweise haben diese aufgehört, durch Doktor Livingstone zu ihnen zu sprechen. Die Stimme des Propheten ist verstummt.
Dieses Schweigen vermindert keineswegs den Eifer der Gläubigen. Systematisch werden die toten Gottgläubigen in einem Raum zusammengelegt, den die Rebellinnen vor den Schlachten aufsuchen. Mit diesen meist in Kampfhaltung erstarrten Statuen simulieren sie Trophallaxen und Gespräche.
Alle diejenigen, die ein einziges Mal einen Fuß in die Totenhalle setzen, kommen mit verklärten Antennendüften wieder heraus. Die Toten nach ihrem Hinscheiden unversehrt zu erhalten bedeutet, den Einzelwesen Bedeutung zu verleihen.
Die Gottgläubigen behaupten als einzige in der Stadt, daß die Bürgerinnen nicht nur Individuen seien, die man auf die Welt kommen lasse und später ohne Bedauern fortwirft.
Die gottgläubigen Rebellinnen haben eine Art zu reden, die wie die Büschelkäferdroge wirkt. Sobald sie mit ihren Pheromonen die Götter anrufen, kann man sich ihren Signalen nicht mehr entziehen.
Die von der »Fingerreligion« angesteckten Ameisen arbeiten dann nicht mehr, sorgen nicht mehr für die Brut, denken nur noch daran, Nahrung zu stehlen, um sie unter den Fußboden zu bringen, in das Fingerium.
Königin Chli-pu-ni scheint dieses Wideraufflammen der Rebellinnenbewegung nicht zu stören. Sie fordert lediglich Neuigkeiten vom Kreuzzug.
Aus der Fliegenquelle verlautet, daß die Kreuzzüglerinnen jetzt das Ende der Welt überwunden und den Kampf gegen die Finger bereits aufgenommen haben.
Großartig, meint die Königin. Die armen Finger! Es wird ihnen noch einmal leid tun, daß sie uns herausgefordert haben!
Wenn wir sie dort drüben endgültig besiegt haben, hat die Rebellinnenbewegung hier keine Daseinsberechtigung mehr.
161. ENZYKLOPÄDIE
ERZÄHLEN: Die Wörter »erzählen« und »zählen« haben im Deutschen fast den gleichen Lautwert. Es läßt sich aber feststellen, daß diese Übereinstimmung zwischen Ziffern und Buchstaben in praktisch allen Sprachen vorkommt. Wörter zählen und Ziffern
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