Der Tag der Ameisen
wo es darum ging, wie das Konzept des Ameisenhaufens die künstliche Intelligenz der Computer revolutionieren könnte.
Die zu den Saltas entsandten Ameisen waren nicht ferngesteuert. Sie waren autonom. Doch sie waren darauf programmiert, eine Wohnung aufzusuchen, einen Geruch wiederzuerkennen, alles zu töten, was nach diesem Duft roch, und dann jeglichen Hinweis auf das Verbrechen verschwinden zu lassen. Weitere Befehle lauteten: Alle Zeugen des Dramas auszuschalten, sofern es welche gab. Vor dem Rückzug jeglichen Geruch nach Leben tilgen.
Die Ameisen bewegten sich durch die Abflußrohre und Abwasserkanäle. Sie tauchten geräuschlos auf und mordeten dadurch, daß sie die Körper von innen durchsiebten.
»Eine perfekte, nicht dingfest zu machende Waffe!«
»Und trotzdem sind Sie ihr entwischt, Kommissar. Man muß nämlich nur davonrennen, um dem Tod zu entgehen. Unsere Ameisen aus Stahl bewegen sich sehr langsam. Das dürften Sie auf Ihrem Weg hierher festgestellt haben. Die meisten Leute sind jedoch so entsetzt, wenn unsere Ameisen sie angreifen, daß sie vor Angst und Überraschung erstarren, anstatt zur Tür zu stürzen und abzuhauen. Außerdem sind die Schlösser heutzutage so kompliziert, daß man mit zittrigen Händen Mühe hat, sie schnell genug zu entriegeln, um dem Anschlag zu entrinnen.
Das ist ein Paradox unserer Zeit: Die Leute mit den besten Sicherheitsvorkehrungen saßen am aussichtslosesten in der Patsche!«
»So also sind sie alle ums Leben gekommen: die Brüder Salta, Caroline Nogard, Maximilian MacHarious, das Ehepaar Odergin und Miguel Cygneriaz!« faßte der Polizist zusammen. »Ja. Das waren die acht Initiatoren des Projekts ›Babel‹. Wir haben unsere Killerinnen zu Ihrem Professor Takagumi geschickt, weil wir Angst hatten, daß uns ein japanischer Teilnehmer entgangen war.«
»Sie haben uns von der Effektivität Ihrer Heinzelmännchen überzeugt! Dürfen wir sie sehen?«
Madame Ramirez stieg zum Dachboden hinauf, um eine Ameise zu holen. Man mußte sie sich sehr genau ansehen, um zu erkennen, daß es sich nicht um ein lebendiges Insekt handelte, sondern um einen beweglichen Automaten. Antennen aus Metall, zwei winzige Videokameras mit Weitwinkel-objektiv in Höhe der Augen, ein Hinterleib, der dank einer Druckkapsel Gift versprühen konnte, rasierklingenscharfe, nicht oxydierende Mandibeln. Der Roboter bezog seine Energie aus einer Lithiumbatterie im Brustkasten. Ein Mikroprozessor im Kopf steuerte sämtliche Gelenkmotoren und verarbeitete die von den künstlichen Sinnen gelieferten Informationen.
Mit der Lupe in der Hand bewunderte Laetitia dieses Meisterwerk der Miniaturisierung und Uhrmacherkunst: »Was es nicht für Einsatzmöglichkeiten für dieses kleine Spielzeug gibt! Spionage, Krieg, Eroberung des Weltraums, Reform der künstlichen Intelligenzsysteme … Und es sieht genauso aus wie eine Ameise.«
»Das Aussehen allein genügt nicht«, betonte Madame Ramirez. »Um wirklich effektiv zu funktionieren, mußte auch die genaue Mentalität einer Ameise kopiert und implantiert werden. Hören Sie, was Ihr Vater dazu sagt!«
Sie blätterte die Enzyklopädie durch und zeigte ihr einen Abschnitt.
166. ENZYKLOPÄDIE
ANTHROPOMORPHISMUS: Die Menschen denken stets auf ein und dieselbe Weise; sie beurteilen alles nach ihren Maßstäben und Werten. Denn sie sind stolz und zufrieden mit ihrem Gehirn. Sie halten sich für logisch, sie meinen, vernünftig zu sein. So sehen sie alles immer von ihrem Standpunkt aus: Ihrer Meinung nach kann die Intelligenz nur menschlich sein, genauso wie das Gewissen und die Phantasie. Frankenstein ist ein Mythos vom Menschen, der in der Lage ist, einen anderen Menschen zu erschaffen, so wie Gott Adam erschuf. Immer die gleiche Schablone! Sogar wenn sie Androiden herstellen, reproduzieren die Menschen ihre eigenen Seins-und Verhaltensweisen. Sie werden sich vielleicht eines Tages einen Roboter zum Präsidenten oder Papst wählen, aber das wird nichts an ihrer Denkweise ändern. Und doch gibt es auch andere! Die Ameisen lehren uns eine davon. Die Außerirdischen werden uns vielleicht andere beibringen.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
Lässig kaute Jacques Méliès auf seinem Kaugummi.
»Das ist ja alles ganz interessant. Jetzt beschäftigt mich vor allem noch eine Frage: Warum wollten Sie mich umbringen, Madame Ramirez?«
»Ach, am Anfang hatten wir kein Mißtrauen gegen Sie, sondern gegen Mademoiselle
Weitere Kostenlose Bücher