Der Tag der Ameisen
Aufprall mit ihren Beinen ab. Dreizehn Stockwerke ist doch recht hoch.
Der Käfer hingegen hat weniger Glück. Sein schwerer Panzer zerplatzt auf dem Boden. Das ist das Ende des tapferen
»Großen Horns«, des herrlichen Luftkämpfers.
Der Sturz von Nr. 103 ist von einer großen Tonne voller Müll abgefedert worden. Was für ein wundersamer Ort! Hier ist alles eßbar – das nutzt sie zu einer stärkenden Mahlzeit. Es riecht stark nach unzähligen Düften und Dünsten, die sie in der kurzen Zeit nicht alle identifizieren kann.
Dort oben auf einem zerrissenen Kochbuch hat sie eine flüchtige Silhouette ausgemacht. Es sind sogar mehrere. Tausende von Silhouetten beobachten sie scheel. Ihre langen Fühler werden immer zahlreicher.
Es gibt also Insekten, die im Fingerland leben!
Sie erkennt sie. Es sind Schaben.
Überall sind welche. Sie kommen aus einer Konservendose, aus einem kaputten Pantoffel, aus einer toten Ratte, aus einem Waschmittelpaket mit gefräßigen Enzymen, aus einem Joghurtbecher mit aktiven Bakterienkulturen, aus einer ausgelaufenen Batterie, aus einer Sprungfeder, aus einem blutverkrusteten Heftpflaster, aus einer Schachtel Beruhigungsmittel, aus einer Schachtel Schlafmittel, aus einer Schachtel Aufputschmittel, aus einer Schachtel Tiefgefrorenem, deren Verfallsdatum abgelaufen ist und die somit ungeöffnet weggeworfen wurde, aus einer Büchse Sardinenfilets. Die Schaben kreisen Nr. 103 ein. So große hat sie noch nie gesehen. Sie haben braune Deckflügel und sehr lange, gebogene Antennen ohne Bindeglieder. Sie riechen übel, nicht ganz so schlimm zwar wie die Stinkwanzen, doch ist ihr ekelerregender Gestank durchdringender und in den Geruchsschattierungen des Abfalls ausgeprägter.
Ihre Flanken sind durchscheinend, so daß man durch das Chitin die pulsierenden Eingeweide sehen kann, die Herzschläge, die in die feinen Äderchen gepumpten Blutströme. Nr. 103 ist beeindruckt.
Eine alte Schabe mit widerlichen Ausdünstungen (Richtung ranziger Honig), gelblichen Deckflügeln und Beinen, die von kleinen Häkchen übersät sind, wendet sich in der Duftsprache an Nr. 103.
Sie fragt, was sie hier zu suchen habe.
Nr. 103 antwortet ihr, daß sie die Finger in ihrem Nest aufsuchen wolle.
Die Finger! Sämtliche Schaben scheinen sich über sie lustig zu machen. Ob sie tatsächlich … Finger gesagt habe?
Ja, was ist denn daran so komisch?
Die Finger sind überall. Es ist nicht besonders schwierig, sie zu treffen, meint die alte Schabe.
Könnt ihr mich in eines ihrer Nester führen? fragt die Ameise.
Die alte Schabe kommt näher.
Weißt du denn wirklich, was das ist … die Finger?
Nr. 103 schaut ihr ins Gesicht.
Das sind riesige Tiere.
Nr. 103 versteht nicht, was die alte Schabe ihr sagen will.
Schließlich gibt ihr die Greisin Antwort: Die Finger sind unsere Sklaven.
Das mag Nr. 103 kaum glauben. Die Riesenfinger sollen Sklaven der kleinen, abstoßenden Schaben sein?
Erklärt mir das.
Die Alte erzählt, wie die Schaben den Fingern beigebracht hätten, ihnen tagtäglich Tonnen verschiedener Nahrungsmittel hinzukippen. Die Finger würden für Schutz, Nahrung und Wärme sorgen. Sie stünden ihnen zu Befehl und würden sich um sie kümmern.
Kaum hätten die Schaben ein paar Proben von den allmorgendlichen Gabenbergen gekostet, die ihnen die Finger darbringen, würden schon andere Finger kommen und die Tafel abräumen. Auf diese Weise gebe es immerzu ganz frisches, erstklassiges Essen, und zwar reichlich.
Andere Schaben erzählen, daß auch sie früher im Wald gelebt hätten. Doch dann hätten sie das Fingerland entdeckt und sich dort niedergelassen. Seitdem hätten sie es nicht mehr nötig, auf die Jagd zu gehen, um sich zu versorgen. Die von den Fingern dargebrachte Nahrung sei süß, fetthaltig, abwechslungsreich und – bewege sich vor allem nicht.
Es ist jetzt vielleicht fünfzehn Jahre her, daß unser entferntester Vorfahr kein Kleinwild mehr zu jagen brauchte.
Jeden Tag fällt alles ganz frisch vom Himmel, von den Fingern serviert, versichert eine dicke Schabe mit schwarzem Rücken.
Redet ihr mit den Fingern? erkundigt sich Nr. 103, fassungslos ob dieser Neuigkeiten, aber auch angesichts dessen, was sie wohl oder übel sehen muß: Berge von Nahrung!
Die alte Schabe erklärt, daß es nicht nötig sei, mit ihnen zu reden. Sie gehorchten, ohne daß eine Schabe darauf bestehen müsse.
Das heißt – einmal seien die Opfergaben etwas verspätet gekommen. Die Schaben hätten ihrer
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