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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Verärgerung dadurch Ausdruck verliehen, daß sie mit dem Hinterleib gegen die Mauer klopften, und am nächsten Tag sei die Nahrung endlich wieder zur rechten Zeit gebracht worden. Im allgemeinen würden die Abfälle täglich heruntergekippt.
    Könnt ihr mich zu ihrem Nest führen? fragt die Ameise.
    Beratung. Sie scheinen nicht alle damit einverstanden. Die alte Schabe gibt das Ergebnis der Abstimmung bekannt.
    Wir führen dich erst zu ihrem Nest, wenn du imstande bist, dich der »höchsten« Probe zu stellen.
    Der höchsten Probe?
    Die Schaben führen die Soldatin in den Müllraum im ersten Untergeschoß des Gebäudes. Dort gibt es eine Ecke voll mit alten Möbeln, Haushaltsgeräten und Kartons.
    Sie bringen Nr. 103 an eine ganz bestimmte Stelle.
    Was ist denn nun diese »höchste Probe« genau?
    Eine Schabe erwidert, daß der Vorgang im wesentlichen darin bestehe, jemandem zu begegnen.
    Jemandem? Wem denn? Einem Feind?
    Ja, einem Feind, der viel kräftiger ist als du, antwortet die Schabe geheimnisvoll.
    Sie gehen im Gänsemarsch. Die Ameise wird zu der bestimmten Stelle geführt. Dort sieht Nr. 103 eine andere Ameise mit zerzausten Kopfhaaren. Eine wild aussehende Soldatin. Sie ist ebenfalls von Schaben umringt.
    Nr. 103 stößt ihre Fühler nach vorn und bemerkt gleich die erste Merkwürdigkeit: Diese Ameise hat überhaupt keinen Paßgeruch! Vermutlich handelt es sich um eine Söldnerin, die den Nahkampf gewohnt ist, denn Beine und Brust sind von einer Unzahl von Mandibelhieben gezeichnet.
    Sie weiß zwar nicht warum, aber die Ameise, die ihr hier unter diesen merkwürdigen Umständen vorgestellt wird, ist ihr sofort unsympathisch. Kein Geruch, Hungerleidergetue, angeberischer Gang, Beinhärchen, die seit wenigstens zwei Tagen nicht mehr abgeleckt wurden – wirklich eine höchst unangenehme Ameise.
    Wer ist dieses Individuum? fragt Nr. 103 die Schaben, die gespannt auf ihre Reaktionen lauern.
    Jemand, der darauf bestanden hat, genau dich zu treffen, lautet die Antwort.
    Nr. 103 beginnt zu grübeln. Warum will diese Ameise sie treffen, und warum spricht sie jetzt nicht mit ihr? Nr. 103 macht einen Test: Sie tut so, als würde sie einnicken, dann öffnet sie auf einmal sperrangelweit ihre Kieferscheren in Einschüchterungspose. Wird die andere sich unterwerfen oder die Herausforderung annehmen? Kaum hat sie ihre Mandibeln in Kampfposition gebracht, zieht auch die andere mit ihren Lippensäbeln blank.
    Wer bist du?
    Keine Antwort. Die andere hat bloß ihre Antennen aufgerichtet.
    Was tust du hier? Gehörst du zum Kreuzzug?
    Sie wird sich wieder schlagen müssen.
    Nr. 103 unternimmt einen deutlicheren Versuch der Einschüchterung und wackelt mit ihrem Hinterleib, als würde sie gleich aus nächster Nähe schießen wollen. Die andere darf nicht wissen, daß ihr Säurevorrat leer ist.
    Die Ameise gegenüber reagiert genauso. Die beiden Vertreterinnen des Ameisenvolks sind der gaffenden Neugier der Schaben ausgeliefert. Jetzt versteht Nr. 103 die Probe besser. Eigentlich wollen die Schaben bei einem Ameisenduell zuschauen und danach die Siegerin in ihren Stamm aufnehmen.
    Nr. 103 tötet ungern andere Ameisen. Sie weiß jedoch, daß ihre Mission wichtiger ist (eine Schabe hat sich bereit erklärt, während des Kampfes den Kokon für sie zu halten). Und schließlich findet sie das Wesen ihr gegenüber immer abstoßender. Wer ist die denn schon, die Angeberin, die nicht redet und nicht einmal Nr. 103 erkannt hat, die erste Ameise, die bis ans Ende der Welt gekommen ist!
    Ich bin Nr. 103 683!
    Die andere richtet wieder ihre Antennen auf, erwidert aber immer noch nichts. Beide bleiben in Schußposition.
    Wir werden doch wohl nicht aufeinander schießen, meint Nr. 103. Sie vermutet, daß die andere eine volle Säuretasche hat.
    Sie horcht in ihren Körper und spürt, daß sie noch einen letzten Tropfen Säure in ihrem Beutel hat. Wenn sie schnell feuert, bleibt ihr vielleicht der Vorteil der Überraschung.
    Mit der vollen Kraft ihrer Hinterleibsmuskeln schleudert sie ihren Tropfen los.
    Doch durch bloßen Zufall schießt die andere genau im gleichen Moment, so daß die beiden Tropfen einander aufheben und wie in Zeitlupe herunterfallen. (In Zeitlupe? Daß etwas Flüssiges an der Luft abrutscht, hat man ja noch nie erlebt; doch sie achtet nicht darauf.) Nr. 103 greift mit weitaufgerissenen Mandibeln an und stößt gegen etwas Hartes.
    Die Spitze ihrer Kiefer trifft genau auf die Mandibelspitzen der anderen! Nr. 103

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