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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Sie an Ihre Schreibmaschine stürzen und die Geschichte an die große Glocke hängen? Ich bin lieber ein Polizist, der sich irrt, als eine Journalistin, die recht hat. Ich habe die Ramirez’ in Frieden gelassen, doch Ihretwegen; nur weil Sie sich interessant machen wollen, laufen sie Gefahr, den Rest ihrer Tage doch noch hinter Gittern zu verbringen!«
    »Ich erlaube Ihnen nicht …«
    Sie wollte ihn ohrfeigen. Er fing ihr Handgelenk mit einer warmen, festen Hand ab. Ihre Blicke stießen sich aneinander, schwarze Pupillen gegen lila Pupillen. Ebenholzwald gegen tropischer Ozean. Sofort packte sie das Lachen, und gemeinsam prusteten sie los. Aus vollem Hals. Was denn! Sie hatten das Rätsel ihres Lebens gelöst, waren mit einer anderen Welt in Berührung gekommen, einer parallelen, wundersamen Welt, einer Welt, in der die Menschen solidarische Roboter herstellten, mit den Ameisen redeten, das perfekte Verbrechen beherrschten. Und jetzt standen sie hier in dieser tristen Rue Phoenix und kabbelten sich wie Kinder, während sie gemeinsam und Hand in Hand ihre Gedanken hätten miteinander teilen, über diese Augenblicke außerhalb der Zeit hätten nachdenken sollen.
    Laetitia verlor das Gleichgewicht und setzte sich, um weiterlachen zu können, auf den Gehsteig. Es war drei Uhr morgens. Sie waren jung, sie waren ausgelassen, und sie waren kein bißchen müde.
    Sie kam als erste wieder zu Atem.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hab mich dumm benommen.«
    »Nein, du nicht. Ich.«
    »Doch, ich.«
    Von neuem überkam sie das Lachen. Ein später Zecher, der ein bißchen mitgenommen nach Hause kam, betrachtete mitleidig das junge Paar ohne Unterschlupf, das zum Herumtollen nur den Gehsteig hatte. Méliès half Laetitia beim Aufstehen.
    »Gehen wir.«
    »Und was machen wir?« fragte Laetitia.
    »Du willst doch wohl nicht die Nacht auf dem Gehsteig verbringen, oder?«
    »Warum denn nicht?«
    »Laetitia, du Vernunftmensch, was ist los mit dir?«
    »Ich hab es satt, vernünftig zu sein, das ist los! Die Unvernünftigen haben recht. Ich will wie alle Ramirez’ der Welt sein!«
    Er zog sie in eine Ecke unter einem Vordach, damit der Morgentau nicht ihr seidiges Haar und ihren zarten Körper benetzte, der sich so verführerisch unter dem schwarzen Kostüm abzeichnete.
    Sie waren einander ganz nah. Ohne zu zögern streckte er seine Hand aus, um ihr übers Gesicht zu streicheln. Sie entzog sich ihm.
     

171. EIN SCHNECKENMÄRCHEN
     
    Nicolas warf sich auf seinem Bett herum.
    »Mama, ich kann mir nicht verzeihen, daß ich mich als Gott der Ameisen ausgegeben habe. Was für ein Fehler. Wie kann ich das je wiedergutmachen?«
    Lucie Wells beugte sich über ihn: »Was ist gut, was ist schlecht, wer weiß das schon?«
    »Es ist doch klar, daß das schlecht ist. Ich schäme mich so.
    Ich hab die größte Dummheit gemacht, die man sich vorstellen kann.«
    »Wir können nie so genau wissen, was gut und was schlecht ist. Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
    »O ja, bitte, Mama!«
    »Es ist ein chinesisches Märchen. Es waren einmal zwei Mönche, die spazierten im Garten eines taoistischen Klosters.
    Plötzlich entdeckte einer von beiden eine Schnecke, die über den Weg kroch. Sein Begleiter hätte sie aus Unachtsamkeit beinahe zertreten, da hielt er ihn gerade noch zurück. Er bückte sich und hob das Tierchen auf. ›Sieh da, jetzt hätten wir beinahe die Schnecke getötet. Dabei stellt das Tierchen doch ein Leben dar und damit auch ein Schicksal, das weitergehen muß. Die Schnecke soll leben und die Zyklen ihrer Reinkarnation fortsetzen.‹ Und ganz sacht setzte er die Schnecke wieder ins Gras. ›Du Narr!‹ rief der andere Mönch wütend aus. ›Wenn du diese dumme Schnecke rettest, bringst du den Salat in Gefahr, den unser Gärtner so sorgsam zieht.
    Um irgendein Leben zu retten, zerstörst du das Werk unserer Brüder.‹
    Beide stritten sie sich alsdann unter den neugierigen Blicken eines dritten Mönchs, der gerade vorbeikam. Da sie sich nicht einigen konnten, meinte der erste Mönch: ›Legen wir die Sache dem Abt vor. Er allein ist weise genug, um zu entscheiden, wer von uns beiden recht hat.‹ Also begaben sie sich zum Abt, der Mönch war neugierig geworden und folgte ihnen. Der erste Mönch erzählte, wie er die Schnecke gerettet und damit ein heiliges Leben erhalten habe, in dem Tausende von zukünftigen oder vergangenen Daseinsformen verborgen waren. Der Abt lauschte ihm, nickte und sprach dann: ›Du hast getan, was

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