Der Tag der Ameisen
sich ziemte. Du hast recht getan.‹ Der zweite Mönch sprang auf. ›Wie denn? Eine Schnecke zu retten, die den Salat frißt und das Gemüse schädigt, soll etwas Gutes sein?
Er hätte die Schnecke vielmehr zertreten sollen, um die Nutzpflanzen zu schützen, dank derer wir jeden Tag gut zu essen haben!‹ Der Abt lauschte ihm, nickte und sprach: ›Das stimmt. Das hätte sich gehört. Du hast recht.‹ Da trat der dritte Mönch, der bis dahin still geschwiegen hatte, vor: ›Aber ihre Ansichten schließen einander aus. Wie können sie da alle beide recht haben?‹ Der Abt betrachtete den dritten Beteiligten lang.
Er überlegte, nickte und sprach: ›Das ist wahr. Auch du hast recht.‹«
Beruhigt schnarchte Nicolas leise unter dem Laken. Zärtlich deckte Lucie ihn zu.
172. ENZYKLOPÄDIE
WIRTSCHAFT: Früher waren die Wirtschaftswissenschaftler der Ansicht, eine gesunde Gesellschaft müsse expandieren. Die Wachstumsrate war der Gradmesser für die Gesundheit des Systems: Staat, Unternehmen, Lohnaufkommen. Es ist jedoch unmöglich, immer mit gesenktem Kopf vorwärtszustürmen. Es ist Zeit, mit der Expansion Schluß zu machen, ehe sie uns über den Kopf wächst und uns erdrückt. Der wirtschaftlichen Expansion kann keine Zukunft beschieden sein. Es gibt nur einen dauerhaften Zustand: das Gleichgewicht der Kräfte. Von einer gesunden Nation, einer gesunden Gesellschaft, einem gesunden Arbeiter kann man dann reden, wenn die Nation, die Gesellschaft, der Arbeiter nicht ihre Umwelt beeinträchtigen und nicht von ihr beeinträchtigt werden. Wir dürfen nicht länger auf Eroberung ausgehen, sondern müssen uns vielmehr der Natur und dem Kosmos einpassen. Es darf nur ein Grundsatz gelten: Harmonie. Gegenseitige harmonische Durchdringung von Innen-und Außenwelt. Ohne Gewalt und ohne Anmaßung. An dem Tag, an dem die menschliche Gesellschaft nicht das Gefühl ihrer Überlegenheit hegt und auch keine Angst mehr vor Naturphänomenen empfindet, wird sich der Mensch in Homöostase mit seinem Universum befinden. Er wird nicht mehr auf die Zukunft ausgerichtet sein.
Er wird keine fernen Ziele mehr anpeilen. Er wird schlicht und einfach in der Gegenwart leben.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
173. ABENTEUER IN EINEM SCHACHT
Sie klettern durch einen unebenen Gang. Mit ihren Mandibeln umklammert Nr. 103 den Schmetterlingskokon der Mission Merkur. Der Aufstieg geht langsam vonstatten. Manchmal erhellt von oben ein Licht den endlosen Korridor. Dann machen die Schaben der Ameise ein Zeichen, sich gegen die Wand zu drücken und ihre Fühler nach hinten zu legen.
Sie kennen sich im Fingerland wirklich gut aus. Denn gleich nach dem Lichtsignal ist ein fürchterlicher Krach zu hören, und ein schwerer riechender Klumpen stürzt den senkrechten Gang herab.
»Hast du den Abfallsack in den Müllschacht geworfen, Liebling?«
»Ja. Es war der letzte. Denk daran, neue zu kaufen, und zwar größere. In die hier ist wirklich zu wenig reingegangen.«
In der Erwartung neuer Lawinen marschieren die Insekten voran.
Wo führt ihr mich hin?
Dort, wo du hinwillst.
Sie erklimmen mehrere Stockwerke, dann bleiben sie stehen.
Hier ist es, sagt die alte Schabe.
Begleitet ihr mich? fragt Nr. 103.
Nein. In einem Schabensprichwort heißt es: »Jeder für sich.«
Sieh selber zu, wie du durchkommst. Du bist dir deine beste Verbündete.
Daraufhin zeigt die Greisin ihr ein kleines Loch in der Klapptür des Müllschachts, durch die Nr. 103 direkt auf dem Spülbecken in der Küche herauskommt.
Den Kokon fest umklammernd, macht Nr. 103 sich auf den Weg.
Wozu bin ich denn eigentlich hierhergekommen? fragt sie sich. Obwohl sie doch solche Angst vor den Fingern hat, spaziert sie nun mitten in ihrem Nest herum!
Doch sie ist nun so weit von ihrer Stadt, von ihrer Welt entfernt, daß ihr am besten scheint, weiter vorzudringen, immer weiter vorzudringen.
Die Ameise wandert durch dieses fremde Land, wo alle Formen streng geometrisch sind. Sie erkundet die Küche und knabbert dabei an einem herumliegenden Brotkrümel.
Um sich Mut zu machen, singt die letzte Überlebende des Kreuzzugs ein belokanisches Liedchen:
Es kommt der Augenblick,
Da steht das Feuer gegen das Wasser,
Da steht der Himmel gegen die Erde,
Da steht das Oben gegen das Unten,
Da steht das Kleine gegen das Große.
Es kommt der Augenblick,
Da steht das Einfache gegen das Vielfache, Da steht der Kreis gegen das Dreieck,
Da steht
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