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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Ihren!
    Sehnsuchtsvoll wünscht sie sich in die beruhigende Pyramide von Bel-o-kan zurück, zum Treiben ihrer Schwestern, der sanften Wanne der Trophallaxen, dem verführerischen Duft der Pflanzen, die danach verlangen, befruchtet zu werden, dem tröstlichen Schatten der Bäume. Wie ihr die Felsen fehlen, wo man sich so gut mit Wärmeenergie volltanken kann, die Pheromonfährten zwischen den Gräsern!
    Und wie zuvor der Kreuzzug rückt Nr. 103 voran, immer weiter voran. Ihre Johnston-Organe werden von einer Menge fremder Frequenzen verwirrt: elektrischen Wellen, Radiowellen, Lichtwellen, Magnetwellen. Die Welt jenseits der Welt ist nichts als ein Tohuwabohu aus falschen Informationen.
    Sie irrt von einem Gebäude zum anderen, je nachdem an einem Rohr, einer Telefonleitung oder einer Wäscheleine entlang.
    Nichts. Kein Willkommenszeichen. Die Finger haben sie nicht wiedererkannt.
    Nr. 103 ist verstört.
    Müde ist sie beim »Wozu?« und beim »Wofür?« angelangt, als sie plötzlich ungewohnte Pheromone wahrnimmt. Ein Duft nach roten Waldameisen. Glücklich flitzt sie auf die wundersamen Gerüche zu. Je schneller sie galoppiert, desto deutlicher erkennt sie diese Duftfahne: Giu-li-kan, das Nest, das von den Fingern kurz vor Beginn des Kreuzzugs entführt wurde!
    Der köstliche Duft zieht sie an wie ein Liebhaber.
    Ja. Da steht unbeschädigt das Nest Giu-li-kan. Und auch seine Bevölkerung ist unversehrt. Sie möchte sich mit ihren Schwestern unterhalten, sie berühren, aber zwischen ihnen erhebt sich eine harte, durchsichtige Wand, die jeden Kontakt verhindert. Die Stadt ist in einem Würfel eingeschlossen. Sie klettert auf das Dach. Dort befinden sich Löcher, die zwar zu klein sind, um die Antennen aneinander zu reiben, aber genügen, um sich durch sie zu verständigen.
    Die Giulikanerinnen erzählen ihr, wie sie zu diesem künstlichen Nest getragen worden sind. Seit sie mit Gewalt hier hineingesetzt worden seien, würden sie von fünf Fingern studiert. Nein, diese Finger seien nicht aggressiv. Sie töteten nicht. Einmal jedoch habe sich etwas Ungewöhnliches ereignet. Andere Finger, die sie nicht gekannt hätten, hätten sie abermals weggebracht und rücksichtslos durchgeschüttelt, so daß dabei viele Giulikanerinnen ums Leben gekommen seien.
    Doch seitdem sie wieder hier seien, habe es keine Probleme mehr gegeben. Die fünf netten Finger würden sie verköstigen, über sie wachen, sie beschützen.
    Nr. 103 jubiliert. Ob sie wohl endlich die Gesprächspartner gefunden hat, die sie schon so lange sucht?
    Mit Düften und Gesten zeigen ihr die in dem künstlichen Nest gefangenen Ameisen, wie sie zu den »liebenswürdigen« Fingern kommt.

179. DUFT
    Augusta Wells befand sich in der Gemeinschaftsrunde. Alle stießen den Laut OM aus, so daß sich eine schöne geistige Blase bildete, in der sie alle sich aneinander drückten.
    Dort oben, einen Meter über ihren Köpfen und einen halben Meter unterhalb der Decke, in einem unwirklichen Schwebezustand, empfand man keinen Hunger mehr, keine Angst, keine Kälte, man vergaß sich, man war nur ein bißchen denkender Dunst in der Schwebe.
    Doch Augusta Wells klinkte sich hastig aus der Blase aus.
    Sie rematerialisierte sich in ihrem Körper aus Fleisch und Blut.
    Sie war nicht konzentriert genug. Irgend etwas beschäftigte sie.
    Ein parasitärer Gedanke. Sie blieb mit ihrem Geist und ihrem Ego am Boden. Der Zwischenfall mit Nicolas gab ihr zu denken.
    Sie überlegte, daß die Menschenwelt für eine Ameise sehr beeindruckend sein mußte. Die Ameisen wären nie dazu in der Lage zu begreifen, was ein Auto ist oder eine Kaffeemaschine oder ein Fahrscheinentwerter. Das lag jenseits ihrer Vorstellungskraft. Augusta Wells überlegte, daß der Abstand zwischen dem Ameisenuniversum und dem unverständlichen Universum der Menschen vielleicht genauso groß ist wie der Abstand, der das menschliche Universum von einer höheren (göttlichen?) Dimension trennt.
    Vielleicht gibt es in einer höheren Raum-Zeit-Dimension einen Nicolas. Man fragt sich, warum Gott so oder so handelt, aber vielleicht ist ja nur ein unwissender Knabe am Werk, der sich aus Langeweile amüsiert?
    Von diesem Gedanken war Augusta Wells bestürzt und erregt zugleich.
    Wenn die Ameisen nicht in der Lage sind, sich einen Fahrscheinentwerter vorzustellen, welche Maschinen, welche originellen Vorstellungen müssen dann die Götter der höheren Raum-Zeit-Dimension haben?
    Das waren bloß zufällige, unnutze Überlegungen.

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