Der Tag der Ameisen
er seine Hand langsam, aber stetig auf sie zugleiten.
Die Finger, die auf sie zukommen, wirken gleichgültig. Nicht das geringste Zeichen von feindlichem Verhalten. Mißtrauen.
Das muß ein Hinterhalt sein. Doch Nr. 103 schwört sich, nicht zu flüchten.
Keine Angst haben. Keine Angst haben. Keine Angst haben.
Na los, sagt sie sich, ich bin von so weit hergekommen, um sie zu treffen, und jetzt, wo sie da sind, habe ich nur eins im Sinn: Mit meinen sechs Beinen die Fliege zu machen. Nur Mut, Nr. 103, du hast ihnen schon einmal gegenübergestanden und hast es überlebt.
Es ist jedoch nicht leicht, zuzusehen, wie fünf rosa Kugeln, die zehnmal höher und dicker sind als man selbst, auf einen zukommen und sich dabei noch zu sagen, daß man sich bloß nicht mucksen soll.
»Sachte, sachte, du siehst doch, daß du ihr angst machst: Ihre Fühler hören überhaupt nicht mehr zu zittern auf.«
»Laß mich nur machen, sie gewöhnt sich schon daran, daß meine Hand allmählich näher kommt. Tiere haben vor langsamen, regelmäßigen Erscheinungen keine Angst. Piano, piano, piano.«
Es ist der Instinkt. Sobald die Finger nur noch zwanzig Schritt weit weg sind, wird Nr. 103 von der Versuchung gepackt, ihre Kiefer weit zum Angriff zu öffnen. Doch zwischen ihren Scheren steckt das zusammengefaltete Papier. Sie ist geknebelt, sie kann nicht einmal mehr beißen. Sie stößt ihre Antennenspitzen nach vorn.
In ihrem Kopf herrscht das Chaos. Ihre drei Gehirne streiten sich, und jedes will seine Meinung durchsetzen: »Hauen wir ab!«
»Nur keine Panik. Wir sind doch nicht umsonst so weit gereist.«
»Wir gehen drauf dabei!«
»So oder so, die Finger sind zu nah, um noch rechtzeitig zu entwischen!«
»Halt, sie ist doch schon halb tot vor Schreck«, befahl Laetitia Wells.
Seine Hand blieb stehen. Die Ameise wich drei Schritt zurück und rührte sich dann nicht mehr.
»Siehst du, wenn ich aufhöre, hat sie am meisten Angst.«
Einen Augenblick lang hofft Nr. 103 auf eine Gnadenfrist, aber die Finger rücken wieder voran. Wenn sie nichts tut, dann werden sie sie in ein paar Sekunden berühren! Nr. 103 hat schon zu spüren bekommen, was ein Klaps von den Fingern bedeutet. Sie erinnert sich an die beiden Möglichkeiten, angesichts von Unbekanntem zu reagieren: handeln oder es über sich ergehen lassen. Da sie es nicht über sich ergehen lassen will, handelt sie!
Phantastisch: Die Ameise war ihm auf die Hand gekrabbelt!
Jacques Méliès war entzückt. Doch die Ameise rannte, flitzte über ihn, benutzte seinen Arm als Trampolin, sprang ab und landete auf der Schulter von Laetitia Wells.
Vorsichtig rückt Nr. 103 voran. Hier riecht es besser als auf dem anderen Finger. Sie nimmt sich die Zeit, alles, was sie sieht und riecht, zu analysieren. Wenn sie heil hier herauskommen sollte, wird ihr das später bei ihrem zoologischen Pheromon über die Finger von Nutzen sein. Es ist schon komisch, auf einem Finger zu sein. Es ist eine flache, hellrosa Fläche, die von Rinnen durchzogen wird. Darauf findet man in regelmäßigen Abständen kleine Brunnen voll süßlichem Schweiß.
Nr. 103 macht ein paar Schritte auf der weißen Rundung von Laetitias Schulter. Diese rührt sich nicht. Sie hat zu große Angst, die Ameise zu zerquetschen. Das Insekt klettert auf ihren Hals, dessen seidige Beschaffenheit sie entzückt. Sie rückt zum Mund vor und stützt sich mit dem ganzen Gewicht ihrer Beine auf diese dunkelroten kleinen Kissen. Einen Moment lang verirrt sie sich in der Höhle von Laetitias linkem Nasenloch, die alles versucht, um nicht niesen zu müssen.
Sie kriecht wieder aus der Nase heraus und beugt sich über den linken Augapfel. Der ist feucht und beweglich. Inmitten eines elfenbeinfarbenen Ozeans liegt eine lila Insel. Dorthin traut sie sich nicht, weil sie Angst hat, mit den Beinen klebenzubleiben. Sie tut gut daran, denn schon bedeckt eine Art große Membran, die in einer schwarzen Bürste endet, den Augapfel.
Nr. 103 nimmt wieder den Weg über den Hals, dann rutscht sie zwischen den Brüsten durch. Na so was, da stolpert sie doch über ein paar rote Flecken! Von der feinen Beschaffenheit der Brüste bezaubert, nimmt sie eine Brustwarze in Angriff, deren rosiger Gipfel sich verändert. Oben bleibt sie stehen, um sich ein paar Notizen zu machen. Sie weiß, daß sie auf einem Finger steht und daß dieser ihr erlaubt, ihn zu besichtigen. Die Giulikanerinnen haben recht. Die Finger hier sind eigentlich nicht
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