Der Tag der Ameisen
Sie konzentrierte sich wieder und fand in die bequeme Geistblase der Gruppe zurück.
180. DAS ZIEL RÜCKT NÄHER
Hier ist es voller Geräusche, Gerüche und Wärme. Hier gibt es lebendige Finger, das steht fest.
Nr. 103 geht auf die Zone der Geräusche und Schwingungen zu und versucht dabei, sich nicht allzusehr in dem Dschungel des dicken roten Teppichbodens zu verlaufen. Ihr Weg ist mit weichen Hindernissen übersät. Überall auf dem Boden liegt eine Menge üppiger Gewebe herum.
Die letzte Kreuzzüglerin klettert über das Sakko von Jacques Méliès, dann über seine Hose; danach setzt sie ihren Weg über ein schwarzes Seidenkostüm fort, rückt auf dem Hemd des Kommissars vor. Ein Stück weiter steigt sie auf den Bergen hinauf und hinunter, die von Laetitia Wells Büstenhalter gebildet werden. Sie nähert sich der Turbulenzzone.
Vor ihr liegt ein Stück gehäkelter Tagesdecke. Sie erklimmt es. Je höher sie steigt, um so mehr wackelt es. Es gibt Fingerdüfte, Fingerwärme, Fingergeräusche: Da oben sind sie, das steht fest. Endlich findet sie sie. Sie entkapselt ihren Schmetterlingskokon und holt ihren Schatz heraus. Die Mission Merkur steht kurz vor ihrem Abschluß. Sie krabbelt auf den Gipfel des Betts.
Komme, was da wolle.
Laetitia Wells schloß ihre lila Augen. Sie spürte, wie die Yang-Energie ihres Gefährten sich mit ihrer Yin-Energie vereinte.
Ihre verschmolzenen Körper tanzten in Übereinstimmung. Als Laetitia die Augen wieder aufschlug, schreckte sie hoch.
Praktisch vor ihrer Nase befand sich eine Ameise, die zwischen ihren Kiefern ein winzig kleines, zusammengefaltetes Stück Papier schwenkte.
Ein bestürzender Anblick! Sie bewegte sich nicht weiter, krümmte sich, machte sich los.
Diese abrupte Unterbrechung überraschte Jacques Méliès.
»Was ist denn los?«
»Auf dem Bett ist eine Ameise!«
»Sie muß aus deinem Terrarium entwischt sein. Wir haben heute genug mit Ameisen zu tun gehabt. Fang sie ein, und laß uns weitermachen, wo wir aufgehört haben!«
»Nein, warte, die hier ist nicht wie die anderen. Sie hat was Außergewöhnliches.«
»Ist es ein Roboter von Arthur Ramirez?«
»Nein, das ist eine springlebendige Ameise. Und du wirst mir vielleicht nicht glauben, aber sie hat ein gefaltetes Stück Papier zwischen den Mandibeln. Anscheinend will sie es uns geben!«
Der Kommissar brummte, war aber bereit, sich die Sache anzusehen. Tatsächlich erblickte er eine Ameise, die ein Stückchen zusammengefaltetes Papier trug.
Vor sich sieht Nr. 103 ein Schiff voller Finger.
Normalerweise setzt sich das Fingertier aus zwei Herden von fünf Fingern zusammen. Doch dieses muß ein höheres Tier sein, weil es dicker ist und nicht nur über zwei, sondern über vier Herden von fünf Fingern verfügt. Das heißt über zwanzig Finger, die sich von einer rosafarbenen Wurzel aus emporrecken.
Nr. 103 rückt vor und hält mit den Kieferbacken den Brief hin. Dabei versucht sie, sich nicht von der natürlichen Angst unterkriegen zu lassen, die ihr diese ungewöhnlichen Wesen einflößen.
Sie denkt zurück an die Schlacht mit den Fingern im Wald und hat Lust, sich auf allen sechsen aus dem Staub zu machen.
Aber es wäre ja zu blöd, wenn sie sich jetzt nicht stellen würde, wo sie schon fast am Ziel ist.
»Na los, versuch herauszukriegen, was sie zwischen ihren Scheren hält.«
Ganz langsam streckte Jacques Méliès seine Hand nach der Ameise aus. Er murmelte: »Bist du dir ganz sicher, daß sie mich nicht beißt oder mit Ameisensäure bespritzt?«
»Du wirst mir doch nicht sagen wollen, daß du vor einer kleinen Ameise Angst hast?« flüsterte Laetitia ihm ins Ohr.
Die Finger kommen näher, und die Angst überflutet sie. Nr. 103 erinnert sich an die Lektionen, die sie in Bel-o-kan gelernt hat, als sie noch klein war. Im Angesicht eines Räubers muß man vergessen, daß er stärker ist. Man muß an etwas anderes denken. Die Ruhe bewahren. Der Räuber erwartet stets, daß man vor ihm flieht, und sein Verhalten ist daran angepaßt.
Doch wenn man bleibt, wo man ist, vor ihm, unerschütterlich, ohne seine Angst zu zeigen, gerät er außer Fassung und traut sich nicht anzugreifen.
Die fünf Finger rücken sacht auf sie zu.
Sie wirken überhaupt nicht fassungslos.
»Paß bloß auf, daß du sie nicht erschreckst. Warte, langsamer, sonst haut sie ab!«
»Ich bin mir sicher, daß sie sich bloß nicht rührt, um mich zu beißen, wenn ich ganz nah dran bin.«
Trotzdem ließ
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