Der Tag der Ameisen
aggressiv. Von der Spitze der Brustwarze aus hat sie eine unverstellte Aussicht auf die andere Brust und das Bauchtal.
Sie kommt wieder herunter und bewundert die helle, warme, weiche Fläche.
»Rühr dich nicht! Sie läuft auf deinen Nabel zu.«
»Ich möchte schon, aber es kitzelt.«
Nr. 103 fällt in den Nabelbrunnen, steigt wieder heraus, galoppiert über die langen Oberschenkel, krabbelt auf das Knie, steigt wieder auf das Schienbein herunter und kraxelt auf das Vorgebirge des Fußes.
Dort sieht sie die fünf kleinen, dicken und verkrüppelten Finger, deren Enden rotgefärbt sind. Sie klettert wieder das Bein hinauf, sprintet über die Waden, rutscht über ein Stück glatte weiße Haut. Sie jagt über diese warme, rosige, weichkörnige Wüste. Sie klettert über das Knie, steigt die Oberschenkel empor.
181. ENZYKLOPÄDIE
SECHS: Die Zahl Sechs eignet sich vorzüglich für Beinkonstruktionen. Sechs ist die Zahl der Schöpfung. Gott erschuf die Welt in sechs Tagen und ruhte am siebenten. Nach Clemens von Alexandria wurde das Universum in sechs verschiedenen Richtungen erschaffen: den vier Himmels-richtungen, dem Zenit (dem höchsten Punkt) und dem Nadir (dem vom Standpunkt des Beobachters aus tiefsten Punkt). In Indien heißt der sechsarmige Stern Yantra und bezeichnet den Liebesakt, die Durchdringung von Yoni und Lingam. Für die Juden stellt der Davidstern, auch Siegel Salomos genannt, die Summe aller Elemente des Universums dar. Das nach oben zeigende Dreieck steht für Feuer, das nach unten weisende für Wasser.
In der Alchimie gilt, daß jede Zacke des sechsarmigen Sterns einem Metall und einem Planeten entspricht. Die obere Zacke steht für Silber und Mond. Von links nach rechts folgen dann Venus und Kupfer, Merkur und Quecksilber, Saturn und Blei, Jupiter und Zinn. Mars und Eisen. Die richtige Verbindung der sechs Elemente und sechs Planeten ergibt in der Mitte Sonne und Gold.
In der Malerei findet der sechszackige Stern für die Darstellung aller möglichen Farbassoziationen Verwendung.
Die Vereinigung aller Farbtöne ergibt in dem zentralen Sechseck weißes Licht.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
Sechstes Arkanum
DAS REICH DER FINGER
182. NOCH NÄHER AM ZIEL
Nr. 103 krabbelt den Oberschenkel hinauf. Doch da kommen fünf Finger, lassen sich nieder und versperren ihr den Weg, ehe sie die Leistengegend erreicht. Der Besuch ist beendet.
Nr. 103 hat Angst, zerquetscht zu werden. Doch nein – die Finger bleiben, wo sie sind, als würden sie sie zu einer Verabredung erwarten. Die Giulikanerinnen hatten eindeutig recht: Diese Finger sind nicht von der üblen Art. Sie lebt immer noch. Sie richtet sich auf ihren Hinterbeinen auf und reckt ihre Botschaft zum Himmel empor.
Langsam rückte Laetitia Wells mit den langen, lackierten Nägeln von Daumen und Zeigefinger näher und schnappte sich wie mit einer Pinzette das gefaltete Stück Papier.
Erst zögert Nr. 103, doch dann sperrt sie die Kiefer weit auf und läßt ihre kostbare Last los. Um dieses magischen Augenblicks willen haben so viele Ameisen ihr Leben gelassen.
Laetitia Wells legte das Papier in ihre Handfläche. Es war etwa ein Viertel so groß wie eine Briefmarke, doch waren auf beiden Seiten geschriebene Zeichen zu sehen. Sie waren so klein, daß man sie nicht mehr lesen konnte. Trotzdem waren sie als menschliche Schrift zu erkennen. »Ich glaube, die Ameise hat uns Post gebracht«, sagte Laetitia und versuchte das Stückchen Papier zu lesen.
Jacques Méliès holte seine große Leuchtlupe.
»Damit dürfte es leichter sein, den Brief zu entziffern.«
Sie setzten die Ameise in ein kleines Röhrchen, zogen sich an und beugten sich dann mit der Lupe über das Papierchen.
»Ich hab gute Augen«, versicherte Méliès, »gib mir einen Stift, und ich schreibe die Wörter auf, die ich erkenne. Danach probieren wir, uns die fehlenden zusammenzureimen.«
183. ENZYKLOPÄDIE
TERMITEN: Ab und zu treffe ich Wissenschaftler, die sich auf Termiten spezialisiert haben. Sie behaupten dann, daß meine Ameisen zwar interessant, aber noch nicht halb so weit entwickelt seien wie die Termiten.
Die Termiten sind die einzigen sozial lebenden Insekten, ja bestimmt sogar die einzigen Tiere, die eine »vollkommene Gesellschaft« geschaffen haben. Die Termiten sind als absolute Monarchie organisiert, in der jedes Individuum glücklich seiner Königin dient, wo alle einander
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