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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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übersprungenen Steine wegnehmen?«
    »Nein, nein, anders als beim Damespiel wird kein Stein rausgeworfen. Man nutzt einfach die freien Felder, um sich einen Weg zu suchen, der möglichst schnell zu der gegenüberliegenden Sternspitze führt.«
    Sie fingen zu spielen an.
    Bald hatte Laetitia sich einen Weg aus Spielsteinen mit jeweils einem freien Feld dazwischen gebahnt. Einer nach dem anderen nahmen ihre Steine diese Autobahn, um so weit wie möglich zu kommen.
    Méliès machte es genauso. Am Ende der ersten Partie hatte er alle seine Steine in das Feld der Journalistin gebracht. Alle bis auf einen vergessenen Nachzügler. Bis er diesen einzelnen hinübergeholt hatte, hatte die junge Frau ihren Rückstand aufgeholt.
    »Du hast gewonnen«, stellte er fest.
    »Für einen Anfänger hast du dich echt gut aus der Affäre gezogen. Jetzt weißt du, daß man bloß keinen Stein vergessen darf. Man muß immer daran denken, sie alle so schnell wie möglich rüberzuschaffen, ohne einen zu übersehen.«
    Er hörte ihr nicht zu. Wie hypnotisiert starrte er das Spielbrett an.
    »Jacques, ist dir nicht gut?« fragte sie beunruhigt. Natürlich, nach so einer Nacht …
    »Nein, nein, das nicht. Mir könnte es gar nicht besser gehen. Aber schau dir mal das Spiel an. Schau’s dir gut an.«
    »Ich schau’s an. Und jetzt?«
    »Und jetzt!« rief er aus. »Das ist doch die Lösung!«
    »Ich hab gedacht, wir hätten schon alles gelöst.«
    »Aber das doch nicht«, beharrte er. »Das letzte Rätsel von Madame Ramirez nicht. Du weißt schon noch: Wie bildet man aus sechs Streichhölzern sechs Dreiecke?« Vergebens betrachtete sie das Sechseck. »Schau noch mal hin. Man braucht die Streichhölzer bloß zu einem sechsarmigen Stern zu legen. So wie hier bei dem Spiel. So daß sich die zwei Dreiecke überschneiden!«
    Laetitia sah sich das Spielbrett genauer an.
    »Der Stern ist ein Davidstern«, sagte sie. »Er symbolisiert die Kenntnis des Mikrokosmos vereint mit der Kenntnis des Makrokosmos. Die Vermählung des unendlich Kleinen mit dem unendlich Großen.«
    »Die Idee gefällt mir«, sagte er und lehnte sein Gesicht an ihres.
    So blieben sie, Wange an Wange, und betrachteten das Spielbrett.
    »Man könnte es auch als die Vereinigung von Himmel und Erde bezeichnen«, meinte er. »In dieser idealen geometrischen Figur vervollständigt, vermischt, vereint sich alles. Die Felder durchdringen einander und bewahren dabei doch ihre Eigenheit. Das ist die Vermischung von Oben und Unten.«
    Rasch fielen ihnen Vergleiche ein.
    »Von Yin und Yang.«
    »Von Licht und Finsternis.«
    »Von Gut und Böse.«
    »Von Kalt und Warm.«
    Auf der Suche nach weiteren Gegensätzen runzelte Laetitia die Stirn.
    »Von Weisheit und Torheit?« »Von Herz und Verstand.«
    »Von Aktiv und Passiv.«
    »Der Stern«, faßte Méliès zusammen, »ist wie dein Halmaspiel, wo jeder von seinem Standpunkt ausgeht und dann den des anderen einnimmt.«
    »Darum der Schlüsselsatz für das Rätsel: ›Man muß genauso denken wie der andere‹, erwiderte Laetitia. ›Aber ich hab noch ein paar weitere Gedankenassoziationen für dich. Was hältst du von der Vereinigung von ›Schönheit und Intelligenz‹?«
    »Und du von Männlich … und Weiblich?«
    Er rückte mit seiner Wange, auf der ein stacheliger Bartansatz wuchs, noch näher an Laetitias samtiges Gesicht. Er wagte es, ihr mit seinen Fingern durch das seidige Haar zu fahren.
    Diesmal stieß sie ihn nicht zurück.
     

176. EINE ÜBERNATÜRLICHE WELT
     
    Nr. 103 klettert vom Spülbecken herunter, wandert über den Staubsauger, läuft in den Gang, erklimmt einen Stuhl, steigt an einer Wand empor, versteckt sich hinter einem Bild, kommt wieder hervor, wuselt wieder hinunter, krabbelt über den steilen Rand der Kloschüssel.
    Auf dem Boden ist ein kleiner See, aber sie hat keine Lust, hinunterzusteigen. Sie geht ins Bad, wittert den Mentholgeruch aus einer schlecht zugeschraubten Zahnpastatube, den süßen Duft des After Shaves, trippelt über ein Stück Seife, rutscht in eine Flasche mit Eishampoo und entrinnt gerade noch dem Ertrinken. Sie hat genug gesehen. In dem Nest befindet sich kein einziger Finger.
    Sie macht sich wieder auf den Weg.
    Sie ist allein. Sie sagt sich, daß sie das einfachste und geringste Überbleibsel des Kreuzzugs darstellt. Schließlich führt alles auf das Individuum zurück. Und noch hat sie die Wahl: für oder gegen die Finger zu sein.
    Kann Nr. 103 sie allesamt ganz allein vernichten?
    Bestimmt.

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