Der Tag der Ameisen
verstehen, einander helfen, wo keiner den geringsten Ehrgeiz oder die geringste egoistische Regung nährt.
Die Gesellschaft der Termiten ist mit Sicherheit diejenige, in der das Wort »Solidarität« den ausgeprägtesten Sinn hat.
Vielleicht deshalb, weil sie die ersten Tiere waren, die Städte gebaut haben – und zwar vor über zweihundert Millionen Jahren.
Doch gerade in ihrem Erfolg liegt ihr eigener Untergang begründet. Was per definitionem vollkommen ist, läßt sich nicht weiter verbessern. In einer Termitenstadt ist daher jegliche Infragestellung, jegliche Neuerung, jegliche innere Unruhe unbekannt. Es handelt sich um einen reinen und gesunden Organismus, der so gut funktioniert, daß er nur noch in seinen mit äußerst beständigem Zement gebauten Gängen sein Glück genießt.
Die Ameisen hingegen leben in einem viel anarchischeren Gesellschaftssystem. Sie machen ihre Fortschritte dadurch, daß sie Fehler begehen, und damit beginnen sie auch all ihre Unternehmungen. Sie sind nie mit dem zufrieden, was sie haben, probieren alles aus, und das sogar unter Lebensgefahr.
Ein Ameisenhaufen ist kein stabiles System, sondern eine Gesellschaft, die sich beständig vorantastet, alle, selbst die abwegigsten Lösungen versucht – manchmal auf das Risiko der eigenen Vernichtung hin. Für mich sind das mindestens genauso viele Gründe, sich für die Ameisen zu interessieren wie für die Termiten.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
184. ENTZIFFERUNG
Nach mehreren Minuten kam Méliès beim Entziffern auf einen verständlichen Brief: »Zu Hilfe. Wir sind zu siebzehnt unter einem Ameisenhaufen eingesperrt. Die Ameise, die Ihnen diesen Brief überbringt, ist unserer Sache ganz ergeben. Sie wird Ihnen den Weg zu unserer Rettung weisen. Über uns befindet sich eine große Granitplatte. Kommen Sie mit Preßlufthämmern und Spitzhacken. Machen Sie schnell.
Jonathan Wells.«
Laetitia Wells richtete sich wieder auf: »Jonathan! Jonathan Wells! Mein Cousin Jonathan ruft uns zu Hilfe!«
»Du kennst ihn?«
»Ich hab ihn nie kennengelernt. Aber er ist trotzdem mein Cousin. Er wurde für tot gehalten, weil er im Keller in der Rue des Sybarites verschwunden war … Du erinnerst dich doch an den Fall mit dem Keller meines Vaters Edmond? Er war eines der ersten Opfer.«
»Anscheinend ist er noch quicklebendig, aber mit einer Gruppe von Leuten unter einem Ameisenhaufen gefangen!«
Méliès besah sich das Papierchen. Diese Botschaft war wie eine Flaschenpost. Sie war mit zitternder, womöglich todkranker Hand geschrieben worden. Wie lange trug die Ameise den Brief wohl schon mit sich herum? Er wußte, wie langsam Insekten vorankamen.
Eine Frage beschäftigte ihn. Der Brief war ganz offensichtlich auf einem normalgroßen Blatt geschrieben und dann mit einem Fotokopierer mehrfach verkleinert worden.
Waren sie da unten so gut eingerichtet, daß sie über einen Fotokopierer und Strom dazu verfügten?
»Meinst du, das stimmt?«
»Ich kann mir kein anderes Szenarium vorstellen, warum eine Ameise sich mit einem Brief abschleppen sollte.«
»Aber was für ein Zufall soll denn das Insekt genau in deine Wohnung geführt haben? Der Wald von Fontainebleau ist groß, die Stadt Fontainebleau ist im Ameisenmaßstab noch größer, und trotzdem hat es die Botin geschafft, ausgerechnet in deiner Wohnung im vierten Stock zu landen … Das ist ein bißchen dick aufgetragen, findest du nicht?«
»Nein, es besteht eine Chance von eins zu einer Million, daß etwas geschieht, und es geschieht trotzdem.«
»Aber kannst du dir vorstellen, daß Leute unter einem Ameisenhaufen festsitzen? Leute, deren Leben vom guten Willen der Ameisen abhängt? Das ist doch einfach unmöglich.
Einen Ameisenhaufen kann man mit einem Tritt umkippen.«
»Sie reden von einer Granitplatte, die ihnen den Weg versperrt.«
»Aber wie kann man sich denn unter einen Ameisenhaufen verkriechen. Da muß man ganz schön bescheuert sein. Das ist doch ein Scherz!«
»Nein. Es ist ein Geheimnis, das Rätsel des geheimnisvollen Kellers, der die verschlingt, die sich in ihn vorwagen. Das Problem besteht doch jetzt darin, die Gefangenen zu befreien.
Wir haben keine Zeit zu verlieren, und ich weiß nur ein Wesen, das uns helfen kann.«
»Wer?«
Sie deutete auf das Röhrchen, in dem Nr. 103 um sich schlug.
»Sie. In dem Brief heißt es, daß sie uns bis zu meinem Cousin und seinen Gefährten führen kann.«
Sie befreiten die Ameise aus ihrem
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