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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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stecken mit unserem Körper fest, aber nicht mit unserem Geist.« »Worte, Worte und noch mehr Worte! Wenn du einen Vorschlag zu machen hast, dann los! Wenn nicht, dann halt die Klappe!«
    »Der Säugling, der aus dem Leib seiner Mutter kommt, begreift nicht, warum er nicht mehr in warmem Wasser gebadet wird. Er möchte wieder in die mütterliche Zuflucht, aber die Tür ist verschlossen. Er hält sich für einen Fisch, der nie an der offenen Luft leben kann. Ihm ist kalt, das Licht blendet ihn, es ist zu laut. Außerhalb des Mutterleibs ist die Hölle. Wie wir jetzt hält er sich für außerstande, die Probe zu bestehen, weil er glaubt, physiologisch nicht für diese neue Welt gemacht zu sein. Alle haben wir diesen Augenblick erlebt. Trotzdem sind wir nicht gestorben. Wir haben uns der Luft angepaßt, dem Licht, dem Lärm, der Kälte. Wir sind vom Fötus im Wasser zum Säugling mit Luftatmung mutiert. Wir sind vom Fisch zum Säugetier mutiert.«
    »Ja, und weiter?«
    »Jetzt erleben wir die gleiche kritische Situation. Passen wir uns weiter an, lassen wir uns auf diese neue Welt ein!«
    »Er spinnt, er spinnt ganz gewaltig!« rief Gérard Galin aus und verdrehte die Augen.
    »Nein«, murmelte Jonathan Wells, »ich glaube, ich verstehe, was er sagen will. Wir finden die Lösung, weil wir keinen anderen Ausweg haben, als sie zu finden.«
    »Ja, klar, suchen kann man nach der Lösung natürlich immer.
    Wir haben ja auch gar nichts anderes zu tun, während wir darauf warten, vor Hunger zu krepieren.«
    »Laßt Jason reden«, befahl Augusta. »Er ist noch nicht fertig.«
    Jason Bragel ging zum Pult und nahm dort die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens.
    »Ich habe sie gestern nacht noch einmal gelesen. Ich war davon überzeugt, daß die Lösung zwischen all diesen Buchstaben steht. Ich habe lange gesucht und schließlich den Abschnitt gefunden, den ich euch gern laut vorlesen möchte.
    Hört gut zu.
     

48. ENZYKLOPÄDIE
     
    HOMÖOSTASE: Jede Lebensform ist nach Homöostase bestrebt.
    »Homöostase« bedeutet Gleichgewicht zwischen den inneren und den äußeren Lebensbedingungen.
    Jedes lebende Gebilde funktioniert durch Homöostase. Die Vögel haben zum Fliegen hohle Knochen. Das Kamel hat Wasserreserven, um in der Wüste zu überleben. Das Chamäleon ändert seine Pigmentierung, um seinen Feinden zu entgehen. Diese Arten haben sich wie viele andere bis zum heutigen Tag dadurch erhalten, daß sie sich an alle Umwälzungen in ihrer Umwelt anpaßten. Diejenigen, die zu keinem Einklang mit der Außenwelt gefunden haben, sind ausgestorben. Die Homöostase ist die Fähigkeit zur Selbstregulierung unserer Organe im Verhältnis zu äußeren Zwängen.
    Man ist immer wieder überrascht festzustellen, bis zu welchem Punkt jedermann die härtesten Prüfungen zu überstehen und seinen Organismus daran anzupassen vermag.
    Im Krieg, unter Umständen, unter denen der Mensch gezwungen ist, zum Überleben über sich hinauszuwachsen, hat man erlebt, daß Leute, die bis dahin nichts als Bequemlichkeit und Ruhe gewohnt gewesen waren, sich ohne Murren mit Wasser und trocknem Brot zufriedengegeben haben. In wenigen Tagen lernen in den Bergen verirrte Städter eßbare Pflanzen zu erkennen und Tiere, vor denen sie sich immer geekelt haben, zu jagen und zu essen: Maulwürfe, Spinnen, Mäuse, Schlangen …
    Robinson Crusoe von Daniel Defoe oder Die geheimnisvolle Insel von Jules Verne sind Bücher, die die menschliche Fähigkeit zur Homöostase preisen.
    Alle befinden wir uns auf der ständigen Suche nach Homöostase, denn schon unsere Zellen sind darum bestrebt.
    Sie gieren beständig nach einem Maximum an Nährlösung in der optimalen Temperatur und frei von Schärfen, giftigen Substanzen. Doch wenn es erforderlich ist, passen sie sich an.
    So sind die Leberzellen eines Säufers besser auf die Aufnahme von Alkohol eingestellt als die eines Abstinenzlers. Die Lungenzellen eines Rauchers bilden Resistenzen gegen das Nikotin. König Mithridates hatte seinen Körper sogar darauf trainiert, Arsen auszuhalten.
    Je feindlicher die Umgebung ist, um so stärker zwingt sie die Zelle oder das Individuum, unbekannte Fähigkeiten zu entwickeln.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. Dem Vorlesen folgte langes Schweigen. Jason Bragel brach es, um die Sache noch deutlicher zu machen.
    »Wenn wir sterben, dann nur deshalb, weil wir es nicht geschafft haben, uns an diese extreme Umgebung anzupassen.«
    Gérard Galin

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