Der Tag der Ameisen
683 bleibt keine Zeit zum Staunen. Das Tier war ihr schwerfällig und linkisch vorgekommen, aber schon bewegt sich hinter ihr etwas mit dem Fauchen einer gutgeölten Maschinerie. Zwei braune Deckflügel haben sich nach vorne geschoben. Zwei breite, durchsichtig braune Flügel kreisen, entfalten sich und fangen nervös zu schlagen an. Sogleich erfüllt ein ohrenbetäubender Krach die Luft. Chli-pu-ni hat vergessen, ihre Soldatin zu warnen, daß der Käfer beim Flug sehr laut ist. Das Dröhnen wird noch lauter. Alles bebt. Nr. 103 683 hat keine Zeit mehr, sich vor dem zu fürchten, was jetzt kommen mag.
Ihr Gesichtsfeld wird von Spiralen aus Staub und Sägemehl verdeckt. Eine seltsame Wirkung: Nicht ihr Flugtier scheint zu steigen, sondern die Stadt in der Erde zu versinken. Die Königin, die ihr von unten mit den Antennen zuwinkt, wird immer kleiner. Als Nr. 103 683 sie nicht mehr erkennen kann, stellt sie fest, daß sie sich jetzt in gut tausend Schritt Höhe befindet.
Ich will geradeaus.
Der Käfer schlägt sofort die entsprechende Richtung ein und rast unter noch größerem Lärm seiner dunklen Flügel dahin.
Fliegen! Sie fliegt!
Der Traum aller Geschlechtslosen – sie verwirklicht ihn jetzt.
Die Schwerkraft überwinden, die Dimension der Luft erobern, ganz wie die Fortpflanzungsfähigen beim Hochzeitsschwarm!
Undeutlich nimmt Nr. 103 683 Libellen, Fliegen, Wespen wahr, die an ihr vorbeifliegen. Direkt voraus wittert sie Vogelnester. Gefahr. Sie befiehlt dringend eine Kurve. Aber da oben ist es nicht wie auf dem Boden; man kann nicht kehrtmachen, ohne die Flügel um mindestens 45° zu drehen.
Und als der Käfer gehorcht, wackelt alles.
Die Ameise rutscht, versucht, sich am Chitin ihres Flugtiers festzukrallen, verliert den Halt, zerfurcht vergebens den schwarzen Lack, von dem sich winzige Späne lösen. Weil sie keinen Haltepunkt findet, rutscht sie unweigerlich an der Flanke des Insekts entlang.
Sie fällt ins Leere.
Sie hört nicht zu fallen auf. Der Käfer bemerkt nichts. Nr. 103 683 sieht, wie er seine Kurve zu Ende fliegt und sich mutig in neue luftige Höhen schwingt.
Währenddessen fällt die Ameise und fällt und fällt und fällt.
Der Boden rast auf sie zu, mit seinen Pflanzen und seinen Grimassen schneidenden Felsen. Sie dreht sich und dreht sich, ihre Antennen wirbeln unkontrolliert herum.
Und dann der Aufprall!
Sie bekommt alles auf die Beine ab, prallt hoch, fällt ein Stück weiter wieder herunter, prallt noch einmal hoch. Zum Glück fängt ein Moosbett den letzten Stoß auf.
Die Ameise ist ein so leichtes und so widerstandsfähiges Insekt, daß sie durch einen freien Fall nicht zerschmettert wird.
Selbst wenn sie von einem sehr hohen Baum stürzt, setzt sie ihren Weg fort, als ob nichts gewesen wäre.
Nr. 103 683 ist durch das Schwindelgefühl bei ihrem Sturz bloß ein bißchen durcheinander. Sie richtet ihre Antennen wieder nach vorn, wäscht sich rasch und macht sich auf den Weg in ihre Stadt.
Chli-pu-ni hat sich nicht von der Stelle gerührt. Sie befindet sich noch immer auf der Kuppel, als Nr. 103 683 wieder neben ihr erscheint.
Verlier nicht den Mut. Fang von vorn an.
Die Königin begleitet die Soldatin zur Abflugbrücke.
Außer den achtzigtausend Soldatinnen kannst du auf die siebenundsechzig abgerichteten Nashornkäfersöldner zählen.
Die werden dir eine beträchtliche Schwerkraft verleihen. Du mußt sie zu steuern lernen.
Auf einem anderen Koleopter startet Nr. 103 683 aufs neue.
Der erste Versuch war zwar kein Erfolg, aber vielleicht versteht sie sich mit ihrem neuen Schlachtroß besser.
Gleichzeitig startet rechts neben ihr eine Artilleristin. Sie fliegen Seite an Seite, und die andere gibt ihr Zeichen. Bei dieser Geschwindigkeit zirkulieren die Pheromone praktisch nicht mehr. Damit es darauf nicht ankommt, haben die Pionierinnen bald eine Zeichensprache anhand von Antennenbewegungen erfunden. Je nachdem, ob sie aufgerichtet oder eingeknickt sind, bilden die Antennenstäbe eine Art Morsesprache, die auf die Entfernung hin verständlich ist.
Die Artilleristin zeigt an, daß man die Antennen des Flugtiers loslassen und auf seinem flachen Rücken herumlaufen kann. Man braucht sich nur ein paar gute Haltepunkte zu suchen, indem man die Krallen unter den Warzen des Panzers einhakt.
Sie scheint diese Technik vollkommen zu beherrschen. Dann zeigt sie, daß man an den Beinen des Käfers entlanggehen kann. Von dort aus kann man den Hinterleib ausrichten und auf alles
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