Der Tag der Ameisen
explodierte:
»Extreme Umgebung, du hast gut reden! Haben sich die Gefangenen von Ludwig XI. in ihren Zellen von gerade einem Quadratmeter vielleicht an ihre Gitter angepaßt? Können die standrechtlich Erschossenen die Haut ihres Oberkörpers härter machen, um die Kugeln abprallen zu lassen? Sind die Japaner widerstandsfähiger gegen radioaktive Strahlung geworden? Du machst mir Spaß! An bestimmte Umstände kann man sich nicht anpassen, selbst beim besten Willen nicht!«
Alain Bilsheim ging auf das Pult zu.
»Dein Abschnitt aus der Enzyklopädie war ja ganz interessant, aber ich sehe nicht, inwiefern er uns konkret betrifft.«
»Aber was Edmond uns sagt, ist doch ganz klar: Wenn wir überleben wollen, müssen wir mutieren.«
»Mutieren?«
»Ja. Mutieren. Zu Höhlentieren werden, die unter der Erde leben und sich von wenigem ernähren. Die Gruppe als Mittel zum Widerstand und zum Überleben nutzen.«
»Das heißt?«
»Wir haben die Kommunikation mit den Ameisen verdorben und leiden in unserem Körper, weil wir nicht weit genug gegangen sind. Wir sind Menschen geblieben, fröstelnd, aber von uns überzeugt.«
Dem stimmte Jonathan Wells zu: »Jason hat recht. Den Weg, der uns körperlich bis zum Ende des Kellers geführt hat, haben wir geschafft. Das war erst die Hälfte der Strecke. So oder so zwingen uns die Umstände, unsere Reise fortzusetzen.«
»Willst du damit sagen, daß es einen Keller nach dem Keller gibt?« spöttelte Galin. »Du willst, daß wir unter dem Tempel graben, um den Keller des Tempels zu finden, der uns dann wer weiß wohin führt?«
»Nein. Versteh mich doch. Eine Hälfte des Wegs war körperlich, und wir haben sie mit unserem Körper zurückgelegt. Die andere betrifft unsere Psyche, und die haben wir noch vor uns.
Jetzt müssen wir umdenken, in unserem Kopf mutieren. Es hinnehmen, wie die Höhlentiere zu leben, zu denen wir geworden sind. Einer von uns hat einmal gesagt, unsere Gruppe könnte nicht mit einer Frau auf fünfzehn Männer funktionieren. Für eine menschliche Gesellschaft trifft das zu, aber für eine Insektengesellschaft?«
Lucie Wells schreckte auf. Sie hatte kapiert, wohin die Argumentation ihres Mannes führte. Damit sie alle gemeinsam überlebten, unter der Erde und mit wenigen Nahrungsmitteln, war der einzige Ausweg, daß sie sich verwandelten … sich verwandelten – in …
Allen lag im gleichen Moment das gleiche Wort auf den Lippen: Ameisen.
49. REGEN
Die Luft ist mit Elektrizität gesättigt. Der Blitz entfacht einen Sturm mehr oder weniger negativer Ionen. Dann folgt ihm ein ernstes Grollen, danach zerreißt ein erneuter Blitz den Himmel in tausend Stücke und wirft auf das Laub ein beunruhigendes, weißlich-violettes Licht.
Die Vögel fliegen tief, tiefer als die Fliegen.
Erneutes Donnergrollen. Eine Wolke in Form eines Amboß teilt sich. Der Panzer des Flugkäfers erstrahlt. Nr. 103 683
fürchtet, von dieser leuchtenden Fläche zu rutschen. Sie hat das gleiche Gefühl von Ohnmacht wie damals, als sie den Fingern gegenüberstand, den Wächtern des Endes der Welt.
Wir müssen zurück, funkt ihr der Käfer zu.
Doch schon fällt dichter Regen. Jeder Tropfen kann sich als tödlich herausstellen. Riesigen Kristallzapfen folgen schwere Spitzen. Jeder Kontakt mit den Flügeln des großen Insekts wäre das Ende.
Der Koleopter gerät in Panik. Inmitten dieses massiven Bombardements fliegt er im Zickzack und versucht alles, um zwischen den Tropfen durchzukommen. Nr. 103 683 hat völlig die Kontrolle verloren. Sie klammert sich einfach mit all ihren Krallen und den Saugnäpfen unten an den Füßen fest. Alles geht sehr schnell. Sie würde gern ihre Kugelaugen schließen, denn sie sehen alle Gefahren gleichzeitig: vorne, hinten, oben, unten! Aber die Ameisen haben keine Lider. Ach, wie sie es eilig hat, wieder zu den Läusen zu kommen!
Ein feines, verirrtes Tröpfchen trifft Nr. 103 683 mit voller Wucht und klebt ihr die Antennen gegen den Thorax. Das Wasser schaltet ihre Antennen aus und hindert sie daran, die folgenden Geschehnisse zu fühlen.
Es ist, als würde man ihr den Ton abdrehen. Ihr bleibt nur noch das Bild, und das wird dadurch um so schauderhafter.
Der große Käfer ist erschöpft.
Die Zickzackbewegungen zwischen den lanzenartigen Tropfen gestalten sich immer schwieriger. Jedesmal wird der Rand der Flügel naß und das ganze Fluggespann schwerer.
Mit knapper Not weichen sie einer schweren Wasserkugel aus. Der Wasserkäfer macht einen
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