Der Tag der Ameisen
Merkur zum Erfolg geführt hätten oder wenn die Finger besiegt wären, sondern vielleicht sei er ja gerade jetzt, in diesem Moment, in dem sie beide da seien, am frühen Morgen, von befreundeten Ameisen umgeben.
Nr. 103 683 erzählt ihr die Geschichte der Königin Gum-Gum-ni.
Nr. 24 sendet, sie glaube, ihre Mission sei von viel
»wichtigerer« Art als diese Geschichte mit den Seelenstimmungen. Sie werde gänzlich von der Möglichkeit beherrscht, daß sie sich den Fingern nähere und sie womöglich sogar sehen und berühren werde.
Sie würde mit niemandem tauschen wollen. Nr. 24 fragt, ob Nr. 103 683 sie schon gesehen habe.
Ich meine sie gesehen zu haben, aber ich weiß es eigentlich nicht, ich weiß es nicht mehr, weißt du, Nr. 24, sie sind so anders als wir.
Das habe Nr. 24 sich schon gedacht.
Nr. 103 683 will sich nicht wieder auf eine Pheromondebatte einlassen. Aber ihr Instinkt sagt ihr, daß die Götter keine Finger sind: Die Götter gibt es vielleicht, aber dann sehen sie ganz anders aus. Vielleicht diese üppige Natur, diese Bäume, dieser Wald, dieser sagenhafte Reichtum an Fauna und Flora, der sie umgibt … Ja, es würde ihr leichter fallen, in diesem phantastischen Schauspiel, das die Erde ihr einfach darbietet, ihren Glauben zu finden.
Gerade erstreckt sich ein Streifen rosiges Licht am Horizont.
Die Soldatin zeigt mit ihrer Antennenspitze darauf.
Schau, wie schön das ist!
Nr. 24 gelingt es nicht, diese Gefühlsregung zu teilen. Da stößt Nr. 103 683 fast trotzig aus:
Ich bin Gott, denn ich kann der Sonne befehlen, aufzugehen.
Nr. 103 683 richtet sich auf ihren vier Hinterbeinen auf, zeigt mit ihren Antennen zum Himmel und deklamiert ein gepfeffertes Pheromon:
Sonne, geh auf, ich befehle es dir!
Da wirft die Sonne einen Strahl über die hohen Gräser. Der Himmel gibt sich einem Fest aus Farben hin: Ocker, Violett, Lila, Rot, Orange, Gold. Das Licht, die Wärme, die Schönheit, alles erscheint in dem Augenblick, in dem die Ameise es verlangt hat.
Vielleicht unterschätzen wir unsere eigenen Möglichkeiten, meint Nr. 103 683.
Nr. 24 hat Lust zu erwidern: »Die Finger sind unsere Götter«, aber die Sonne ist so schön, daß sie schweigt.
Drittes Arkanum
MIT SÄBEL UND MANDIBEL
76. WIE MARILYN MONROE MIT DER MEDICI FERTIG WIRD
Die beiden Äthiopier bildeten ein sehr einiges Paar, das vom gleichen Ideal zusammengeschweißt wurde.
Schon als Gilles Odergin noch ganz klein war, verbrachte er Stunden mit dem Betrachten von Ameisenhügeln. Er hatte bei sich zu Hause Ameisen halten wollen, in leeren Marmeladegläsern. Bei ihrem ersten Fluchtversuch erschlug seine Mutter sie wütend mit dem Pantoffel.
Trotzdem gab er nicht auf und unternahm weitere Zuchtver-suche, die er besser verborgen und hermetisch abgeschlossen durchführte. Doch die Ameisen gingen immer wieder ein, ohne daß er wußte warum.
Lange glaubte er der einzige zu sein, der diesen Tierchen soviel Interesse entgegenbrachte, bis er eines Tages am Institut für Entomologie in Rotterdam Suzanne kennenlernte. Sie fühlten sich beide gleichermaßen unwiderstehlich von den Ameisen angezogen, was sie einander sofort näherbrachte.
Sie war, wenn das überhaupt möglich war, noch leidenschaftlicher bei der Sache als er. Sie hatte Terrarien eingerichtet, konnte eine große Zahl ihrer Untermieterinnen voneinander unterscheiden, gab ihnen Namen und zeichnete den kleinsten Vorfall bei ihren Schützlingen auf. Beide verbrachten sie ihre Samstage damit, Ameisen zu beobachten.
Später, als beide noch immer in Europa und schon verheiratet waren, passierte etwas Schreckliches. Suzanne hatte damals sechs Königinnen in ihrem Ameisenhaufen. Die mit den kurzen Antennen hatte sie Kleopatra getauft:, diejenige, an deren Kopf die Spuren eines Scherenhiebs zu sehen waren, nannte sie Maria Stuart. Die mit den gekräuselten Beinen war Madame Pompadour; die »geschwätzigste«, das heißt, diejenige, welche ihre Wahrnehmungsorgane unablässig bewegte, war Eva Peron; Marilyn Monroe war die putzsüchtigste und die aggressivste hieß Katharina von Medici.
Im Einklang mit ihrem Charakter stellte letztere eine Gruppe von Mörderinnen zusammen und ließ ihre Rivalinnen eine nach der anderen ausschalten. Ohne sich in diesen Kleinkrieg einzumischen, beobachteten die Odergins, wie die Häscher der Medici sich der anderen Königinnen bemächtigten, sie bis zur Tränke schleppten, wo sie sie ersäuften, und sie dann auf die Müllhalde
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