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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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geht überallhin, wo sie kann. Drittens: Sie klettert über die zweite Hand, wenn man ihr mit dieser den Weg abschneidet.
    Viertens: Man kann eine Ameisenkolonne dadurch aufhalten, daß man mit einem angefeuchteten Finger einen Strich vor ihnen zieht (die Insekten bleiben dann dort wie vor einer unsichtbaren, unüberwindlichen Mauer stehen und gehen schließlich um sie herum). Das wissen wir alle. Dennoch ist dieses kindliche Wissen, dieses primitive Wissen, das alle unsere Vorfahren und alle unsere Zeitgenossen mit uns teilen, zu nichts nutze. Denn es wird weder auf der Schule wieder angesprochen (wo die Ameisen unwirsch durchgenommen werden: Zum Beispiel so, daß man die Teile des Ameisenkörpers auswendig lernt – ehrlich gesagt, wozu?) noch nutzt es einem bei der Berufswahl.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

80. ABENDLICHE BESUCHER
    Er hatte richtig vermutet. Der Gerichtsmediziner hatte es ihm bestätigt: Die inneren Verletzungen konnten sehr wohl von Ameisenbissen herrühren. Den Schuldigen hatte Jacques Méliès vielleicht noch nicht, aber er war sich sicher, auf der richtigen Fährte zu sein.
    Zu aufgeregt, um schlafen zu können, schaltete er den Fernseher ein und erwischte zufällig die nächtliche Wiederholung von »Denkfalle«. Madame Ramirez hatte ihr schüchternes Getue aufgegeben und strahlte jetzt.
    »Also, Madame Ramirez, haben Sie es diesmal herausbekommen?«
    »Ja, ja, ich hab’s! Diesmal hab ich die Lösung des Rätsels, glaub ich, gefunden!«
    Donnernder Applaus.
    »Wirklich?« staunte der Moderator.
    Madame Ramirez schlug die Hände zusammen wie ein kleines Mädchen.
    »Ja, ja, ja!« rief sie aus.
    »Na, dann erklären Sie es uns, Madame Ramirez.«
    »Ihre Schlüsselsätze haben mir geholfen«, sagte sie. »›Je intelligenter man ist, desto weniger Lösungschancen hat man‹,
    ›Alles vergessen, was man gelernt hat‹, ›Wie beim Universum, ist die Quelle dieses Rätsels vollkommene Einfachheit‹ … Ich habe begriffen, daß ich wieder ein Kind werden mußte, um es zu lösen. Zurückgehen, zur Quelle zurückkehren, ganz so, als würde diese Reihe, die die Ausdehnung des Universums darstellt, wieder zu dem anfänglichen Urknall zurückfinden.
    Ich mußte wieder schlicht denken, meine Kinderseele wiederfinden.«
    »Das hieß aber weit ausholen, was, Madame Ramirez …«
    Die Kandidatin war richtig in Fahrt und ließ sich nicht unterbrechen: »Wir Erwachsene, wir wollen immer klüger sein, aber ich hab mich gefragt, was passieren würde, wenn man anders herum vorginge, von der Routine abwiche und genau das Gegenteil unserer Gewohnheiten täte.«
    »Bravo, Madame Ramirez.«
    Vereinzelter Beifall. Wie Méliès wartet das Publikum auf das, was kommt.
    »Also, wie reagiert ein kluger Kopf angesichts dieses Rätsels? Bei der Zahlenfolge sieht er erst einmal ein mathematisches Problem vor sich. Er sucht also nach dem gemeinsamen Nenner dieser Ziffern. Er addiert, subtrahiert, multipliziert, zerhackt alle diese Ziffern. Aber er zerbricht sich den Kopf vergebens, weil es nämlich nicht um Mathematik geht … Und wenn es kein mathematisches Problem ist, dann ist es also ein sprachliches.«
    »Scharf gedacht, Madame Ramirez.« Es wird geklatscht.
    Die Kandidatin nutzt die Beifallsbezeugungen, um wieder zu Atem zu kommen.
    »Doch wie soll man einer Zahlenfolge einen sprachlichen Sinn geben, Madame Ramirez?«
    »Dadurch, daß man es wie die Kinder macht, dadurch, daß man sagt, was man sieht. Die Kinder, die ganz kleinen Kinder, sagen, wenn sie eine Zahl sehen, das Wort dafür. Für sie entspricht die Zahl ›sechs‹ ihrer Lautfolge, wie ›Kuh‹ dem vierbeinigen Tier mit Euter entspricht. Das ist eine Konvention.
    Man bezeichnet die Dinge nach den willkürlichen Lauten, die überall auf der Welt anders sind. Doch der Name, die Vorstellung und das Ding ergeben schließlich überall nur eines.«
    »Sie sind ja heute ganz philosophisch, Madame Ramirez.
    Doch unsere Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer wollen etwas Konkretes. Also, die Lösung?«
    »Wenn ich ›1‹ schreibe, wird mir ein Kind, das kaum lesen kann, sagen: ›Das ist eine Eins‹. Also schreibe ich ›eine Eins‹.
    Ich zeige ihm, was ich gerade geschrieben habe, und es wird mir sagen, was es sieht: ›zwei Einsen‹, also ›2 1‹. Und so weiter. Das ist die Lösung. Man braucht nur die obere Linie zu benennen, um die folgende zu erhalten. Unser Kleiner liest also in der Linie darunter: ›eine Zwei,

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