Der Tag der Ameisen
seinen Rhythmus und bahnt sich unaufhaltsam einen Weg zwischen den Gräsern, die knirschend weichen.
Insekten, Würmer, Nager und Reptilien gehen dem Zug lieber aus dem Weg. Die wenigen Mutigen, die ihn aus sicherem Versteck vorbeiziehen sehen, können sich gar nicht darüber beruhigen, Nashornkäfer Seite an Seite mit roten Ameisen zu erblicken.
Ganz vorne schwärmen die Kundschafterinnen geschäftig nach rechts und links aus, suchen dem Gros der Truppen den geradesten, am wenigsten unfallträchtigen Weg.
Diese normalerweise sehr wirkungsvolle Vorsichtsmaßnahme vermeidet nicht, daß die Armee plötzlich auf ein unvorhergesehenes Hindernis trifft. Die Soldatinnen laufen aufeinander auf und drängen sich am Rand eines riesigen Kraters von mindestens hundert Schritt Durchmesser. Vollkommene Verblüffung! Denn sie brauchen nicht lang, um dieses Loch zu erkennen: das ist alles, was von der Stadt Giu-li-aikan noch da ist. Eine verwunderte Soldatin hatte ja erzählt, wie die Stadt greulich aus dem Boden gerissen und dann in einer riesigen durchsichtigen Schale weggetragen worden war … Das also war das Werk der Finger! Dazu waren sie also fähig!
Eine kräftige Ameise wendet sich mit gespannten Antennen an ihre Schwestern. Es ist Nr. 9. Alle kennen ihren Haß auf die Finger. Sie breitet ihre Mandibeln weit aus und stößt ein starkes Pheromon aus:
Wir werden uns rächen! Für Jede von uns werden wir zwei Finger töten.
Alle Kreuzzüglerinnen haben immer wieder gehört, daß es keine hundert Finger auf der Erde gebe, aber sie saugen die erzürnte Botschaft dennoch auf. Vom Zorn aufgewühlt gehen sie um den Abgrund herum und setzen ihren Weg fort.
Bei aller Erregung vergessen sie ihre Vorsicht nicht. Daher stellen sie sich, wenn sie eine zu sonnige Savanne oder Wüste durchqueren, so auf, daß ihre Artilleristinnen Schatten haben.
Die Säure darf auf keinen Fall überhitzt werden, so daß sie explodiert und dabei nicht nur die Trägerin, sondern auch deren Nachbarinnen tötet. Das gilt besonders für die hyperkonzentrierte sechzigprozentige Säure: Man stelle sich die Druckwelle und die Verheerungen in den Reihen der Soldatinnen vor!
Sie erreichen eine Rinne, vermutlich ein Überbleibsel der jüngsten Sintflut. Nr. 103 683 meint, die Rinne könne nicht lang sein und lasse sich im Süden umgehen. Man hört nicht auf sie, man darf keine Zeit verlieren! Aufklärerinnen werfen sich ins Wasser und bilden, einander an den Beinen fassend, einen Ponton. Bis die Truppe drüben ist, werden wohl vierzig von ihnen leblos zurückbleiben. Wenn man etwas will, muß man den Preis dafür bezahlen.
Als der zweite Abend anbricht, würden sie gern einen Termitenhügel oder einen feindlichen Ameisenhaufen besetzen. Aber es ist keiner in Sicht. Sie befinden sich in verlassenem Ödland, wo nichts als Ulmen wachsen.
Eine alte Kriegerin macht den Vorschlag, sie sollten in der Weise zusammenrücken und sich übereinanderstellen, daß sie eine kompakte Kugel bilden. Sie weiß nicht, daß weit entfernt von hier die Rasse der Magnan-Ameisen in ebendieser Weise die Nacht verbringen. Den Rand dieses provisorischen Nestes bildet ein Saum beißbereiter Mandibeln. Im Inneren der Kugel sind »lebende« Kammern für die kälteempfindlichen Käfer sowie für die Kranken und Verwundeten eingerichtet. Das Ganze umfaßt zehn Stockwerke von Gängen und Räumen.
Sobald ein Tier an diesem braunen Kürbis schnuppert, wird es sofort mit Ameisensaft bespritzt. Ein junger Gimpel und eine Eidechse, die dachten, sie seien abgehärtet, bezahlen ihre Neugier so mit einem entsetzlichen Tod.
Während die außen aufgestellten Ameisen in Alarmbereitschaft bleiben, beruhigen und verlangsamen sich im Inneren die Bewegungen. Jede rollt sich in dem Teil einer Kammer oder eines Gangs ein, der ihr zugewiesen worden ist.
Die Kälte bricht herein. Alle schlafen ein.
79. ENZYKLOPÄDIE
KLEINSTER GEMEINSAMER NENNER: Der den Menschen geläufigste Kontakt mit Tieren ist der mit Ameisen. Natürlich findet man Völker, die noch nie einen Hund oder eine Katze, eine Biene oder eine Schlange gesehen haben, aber man wird nie Menschen finden, die nicht wenigstens einmal im Leben eine Ameise haben auf sich herumkrabbeln lassen. Dieses Erlebnis ist uns allen gemein. Und aus der Beobachtung einer Ameise auf unserer Hand haben wir folgende Grundinformationen bezogen. Erstens: Die Ameise bewegt ihre Antennen bzw. Fühler, um zu begreifen, was mit ihr geschieht. Zweitens: Sie
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