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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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zwei Einsen‹. 1211. Ich zähle das auf und erhalte 111221, dann 312211, dann 13112221. Ich glaube nicht, daß so schnell eine ›Vier‹ kommt!«
    »Sie sind großartig, Madame Ramirez! Und Sie haben gewonnen!«
    Der Saal applaudiert frenetisch, und auf einer kleinen Wolke hat Méliès den Eindruck, man klatsche ihm Beifall.
    Der Moderator ruft zur Ordnung:
    »Wir wollen uns aber doch nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, Madame Ramirez?«
    Die Frau trippelt, lächelt, schneidet eine Grimasse, legt die vermutlich eher feuchten als frischen Hände auf die geröteten Wangen.
    »Lassen Sie mich wenigstens wieder zu klarem Verstand kommen.«
    »Ach, Madame Ramirez, Sie haben unser Zahlenrätsel so glänzend gelöst, doch schon kommt unsere neue ›Denk…« »…falle‹!«
    »… die uns wie immer von einem anonymen Fernsehzuschauer zugesandt wurde. Hören Sie sich unser neues Problem gut an: Können Sie mit sechs Streichhölzern, ich wiederhole: mit sechs Streichhölzern, sechs gleich große gleichseitige Dreiecke bilden, ohne sie zu unterbrechen oder zusammenzukleben?«
    »Sechs Dreiecke, sagen Sie? Sind Sie sicher, daß es sich nicht um sechs Streichhölzer und vier Dreiecke handelt?«
    »Sechs Streichhölzer, sechs Dreiecke«, wiederholt der Moderator unbeugsam.
    »Also ein Dreieck pro Streichholz?« erschrickt die Kandidatin.
    »Ganz genau, Madame Ramirez. Und diesmal lautet der erste Schlüsselsatz: ›Man muß genauso denken wie sein Gegenüber.‹
    Also, liebe Fernsehzuschauerinnen – und -zuschauer, alle ans Denken. Und bis morgen, wenn Sie Lust dazu haben!«
    Jacques Méliès schaltete ab, legte sich hin und schlief schließlich ein. Seine Begeisterung verfolgte ihn bis in den Schlaf. In seinen wirren Träumen vermischten sich Laetitia Wells, ihre lila Augen und ihre Insektentafeln, Sébastien Salta und sein Horrorfilmgesicht, der Präfekt Dupeyron, der die Politik aufgab, um eine Karriere als Gerichtsmediziner zu beginnen, die Kandidatin Ramirez, die ihrem Denken nie in die Falle ging …
    Einen Gutteil der Nacht wälzte er sich unter seinen Laken hin und her, während seine Träume ihr Ständchen weiterspielten.
    Er schlief tief. Er schlief weniger tief. Er schlief nicht mehr. Er schreckte hoch. Da war doch ein schwaches Vibrieren, wie ein Klopfen auf der Matratze, das er unten an seinem Bett wahrgenommen hatte. Der Alptraum aus seiner Kindheit suchte ihn wieder heim: Das Ungeheuer, der wilde Wolf mit den haßerfüllten roten Augen … Er faßte sich wieder. Er war doch inzwischen erwachsen. Ganz wach, schaltete er das Licht ein und stellte fest, daß sich unterhalb seiner Füße eine kleine Erhebung befand, die sich bewegte.
    Er sprang aus dem Bett. Die Beule war da, deutlich zu sehen.
    Er schlug mit der Faust darauf und hörte ein Jaulen. Dann sah er verdutzt zu, wie Marie-Charlotte sich hinkend aus den Laken schälte. Die Arme flüchtete sich miauend in seine Arme. Um sie zu trösten, streichelte er sie und massierte ihr die Pfote, der er weh getan hatte. Da er entschlossen war, diese Nacht wieder etwas zu Kräften zu kommen, schloß er Marie-Charlotte dann bei einem Stück Thunfischpastete mit Estragon in der Küche ein. Er trank ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank und sah fern, bis er ganz besoffen von Bildern war.
    In hohen Dosen hatte das Fernsehen eine beruhigende Wirkung, wie ein Analgetikum. Man kam sich flauschig vor, der Kopf war von allem befreit, die Augen voller Probleme, die einen nichts angingen. Ein Genuß.
    Er legte sich wieder hin und fing diesmal an, wie jedermann davon zu träumen, was er im Fernsehen gesehen hatte: Das heißt einen amerikanischen Film, Werbespots, einen japanischen Zeichentrickfilm, ein Tennisspiel und ein paar Mordszenen aus den Nachrichten.
    Er schlief. Er schlief tief. Er schlief weniger tief. Er schlief nicht mehr.
    Wahrhaftig, das Schicksal hatte es auf ihn abgesehen. Wieder sah er eine kleine Düne, die sich unten an seinem Bett bewegte.
    Wieder schaltete er das Licht ein. War da wieder seine Bonsaikatze Marie-Charlotte zu Gange? Er hatte die Tür hinter ihr doch fest zugemacht.
    Schnell sprang er auf. Er sah, wie die Düne sich in zwei, in vier, in acht, in sechzehn, in zweiunddreißig teilte, in eine Hundertschaft kaum merklicher Höcker, die sich aufs obere Ende seiner Laken zubewegten. Er wich einen Schritt zurück. Und betrachtete entsetzt die Ameisen, die sein Kopfkissen stürmten.
    Sein erster Reflex bestand darin, sie mit der flachen Hand abzukehren.

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