Der Tag der Ameisen
länger zu warten. Pech für Nr. 24. Das Volk geht über das Individuum.
85. UNTERSUCHUNG
Méliès kam allein zur Wohnung des Ehepaars Odergin. Die äthiopische Wissenschaftlerin saß im Schneidersitz in einer Wanne ohne Wasser. Auf ihrem Kopf war cremiger, grüner Shampooschaum, ansonsten zeigte sie die schon bekannten Merkmale: Gänsehaut, Schreckensfratze und aus den Ohren gelaufenes Blut. Das gleiche Schema in der Toilette nebenan, nur daß ihr Ehemann auf der Schüssel saß, mit nach vorn gekipptem Oberkörper und auf die Füße gerutschter Hose.
Eigentlich warf Jacques Méliès kaum einen Blick auf die beiden Leichen. Er wußte jetzt, woran er war, und sauste gleich in die Privatwohnung von Emile Cahuzacq.
Der Inspektor war überrascht, seinen Chef zu so früher Stunde bei sich auftauchen zu sehen, nur einen Schlafanzug unter dem Trenchcoat. Er kam ungelegen. Cahuzacq war gerade dabei, sich seinem Lieblingshobby hinzugeben: dem Präparieren von Schmetterlingen.
Ohne darauf zu achten, verkündete der Kommissar gleich:
»Alter Kumpel, es ist soweit! Diesmal haben wir den Mörder!«
Der Inspektor machte ein skeptisches Gesicht.
Méliès bemerkte das Durcheinander auf dem Schreibtisch seines Untergebenen.
»Ja, was bastelst du denn da?«
»Ich? Ich sammle Schmetterlinge. Na und? Hab ich dir das nicht erzählt?«
Cahuzacq verschloß seine Flasche mit Ameisensäure, pinselte abschließend die Flügel eines Seidenspinners ein, dann behandelte er ihn mit einer stumpfen Pinzette.
»Hübsch, oder? Hier, schau … Das hier ist ein Kiefernseidenspinner. Ich habe ihn vor ein paar Tagen im Wald von Fontainebleau gefunden. Komisch, einer seiner Flügel hat ein vollkommen rundes Loch und der andere ist beschnitten.
Vielleicht habe ich eine neue Art entdeckt.«
Méliès beugte sich hinunter und schnitt ein angewidertes Gesicht.
»Deine Schmetterlinge sind ja tot! Du hängst Leichen nebeneinander auf. Würdest du dich gern unter ein Glas mit dem Schild Homo sapiens legen lassen?«
Der alte Inspektor machte ein saures Gesicht: »Du interessierst dich eben für Fliegen, ich für Schmetterlinge.
Jeder hat seine Marotten.«
Méliès klopfte ihm auf die Schulter.
»Na, na, reg dich nicht auf. Wir haben keine Zeit zu verlieren, ich hab den Mörder gefunden. Komm mit, wir spießen jetzt einen schönen Schmetterling von ganz anderer Art auf.«
86. VERIRRT
Gut, man muß sich ins Unvermeidliche fügen. Es ist weder da noch dort, noch dort, noch dort.
Nicht der geringste Ameisenduft in dieser Ecke. Wie hat sie sich nur so schnell verlaufen können, was ist geschehen? Als der Specht auf sie alle zielte, rief eine Soldatin, man müsse sich retten, sich verstecken. Sie ist ihr so brav gefolgt, daß sie sich jetzt verlaufen hat, allein in der Großen Außenwelt. Sie ist jung, sie hat keine Erfahrung und ist weit weg von den Ihren.
Und auch weit weg von den Göttern.
Aber wie hat sie sich nur so schnell verlaufen können? Daran ist ihre Unerfahrenheit schuld, ihr mangelnder Orientierungssinn.
Das weiß sie, darum glaubten die anderen nicht, daß sie den Mumm haben würde, zum Kreuzzug aufzubrechen.
Alle nannten sie Nr. 24, die von Geburt an Verirrte.
Sie umklammert ihre kostbare Last: den Schmetterlingskokon. Diesmal kann ihr Verirren unvorstellbare Folgen haben.
Nicht nur für sie, sondern für das ganze Nest, vielleicht sogar für die ganze Art. Sie muß um jeden Preis wieder ein Pistenpheromon finden. Sie läßt ihre Antennen mit 25 000
Bewegungen pro Sekunde schwingen und spürt nichts Bedeutendes auf. Sie ist völlig aufgeschmissen.
Ihre Last wird bei jedem Schritt schwerer und sperriger.
Sie legt den Kokon ab, wäscht sich fahrig die Antennen und schnuppert lebhaft die Luft um sich ab. Sie nimmt einen Geruch nach Wespennest wahr. Wespennest, Wespennest …
Sie muß sich wohl in der Nähe des Nests der roten Wespen befinden. Das ist im Norden. Ganz die falsche Richtung. Im übrigen bestätigen ihr ihre Johnston-Organe, die empfindlich auf die Magnetfelder der Erde reagieren, daß sie weitab vom Weg ist.
Einen Moment lang hat sie das Gefühl, von einer Schnake belauert zu werden. Doch das muß Einbildung sein. Sie nimmt den Kokon wieder auf und geht schnurstracks geradeaus.
Na gut, diesmal ist sie endgültig in die Irre gelaufen.
Seit ihrer frühesten Kindheit hat Nr. 24 sich immer wieder verirrt. Schon in den Gängen der Geschlechtslosen, als sie erst ein paar Tage alt war, verirrte sie sich, später
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