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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Die Gefühle machen ihr Appetit, und der erstbeste Kopf in ihrer Nähe scheint ihr ein hervorragendes Mahl. Doch das Männchen will seine Schöne nicht begatten und dabei von ihr verspeist werden. Daher hat das grüne Fliegenmännchen eine Strategie erfunden, um sich aus dieser klassischen Dramensituation – Eros ohne Thanatos –
    zu ziehen. Er bringt ein Stück Futter als »Morgengabe« mit.
    Wenn die grüne Fliegendame also Hunger bekommt, kann sie von einem Stück Fleisch kosten und ihr Partner sie derweil gefahrlos bespringen. Bei einer noch weiter entwickelten Art bringt das Männchen das Insektenfleisch in einen durchsichtigen Kokon eingewickelt mit und gewinnt damit noch etwas mehr kostbare Zeit.
    Eine dritte Fliegenart hat die Konsequenzen daraus gezogen, daß die Zeit, die zum Öffnen des Geschenks nötig ist, vom Standpunkt des Männchens aus mehr zählt als die Güte des Geschenks selbst. Bei dieser dritten Art ist die Kokon-verpackung besonders fest, umfangreich und – leer. In der Zeit, bis das Weibchen den Betrug bemerkt, hat das Männchen sein Geschäft schon erledigt.
    Infolgedessen passen alle ihr Verhalten an. Bei den Fliegen des dritten Typs zum Beispiel schüttelt das Weibchen den Kokon, um zu überprüfen, ob er nicht leer ist. Doch … auch hier ist vorgesorgt. Das vorausschauende Männchen versieht das Geschenkpäckchen mit seinen Exkrementen, die gerade schwer genug sind, um als Fleischstückchen durchzugehen.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
     

100. LAETITIA IST GEFLÜCHTET
     
    Im Gefängnis bat Kommissar Méliès, Laetitia Wells sehen zu dürfen. Er fragte den Direktor: »Wie hat sie auf ihre Einlieferung reagiert?«
    »Gar nicht. Sie reagiert nicht.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Seitdem sie hier ist, schläft sie. Sie hat nichts gegessen, nicht einmal einen Schluck Wasser getrunken. Sie hat sich nicht gerührt. Sie schläft, und nichts kann sie wecken.«
    »Wie lang schläft sie schon?«
    »Zweiundsiebzig Stunden.«
    Diese Reaktion hatte Jacques Méliès nicht erwartet. Für gewöhnlich weinten, fluchten und schrien die Frauen, die er verhaftete, keinesfalls jedoch schliefen sie.
    Da klingelte das Telefon.
    »Für Sie«, meinte der Direktor.
    Es war Inspektor Cahuzacq.
    »Chef, ich bin beim Gerichtsmediziner, und es gibt ein kleines Problem. Von den Ameisen der Journalistin, na ja, da rührt sich nur noch eine. Was sagst du dazu?«
    »Ich sage, ich sage … Ich sage, daß sie Winterschlaf halten, das ist alles.«
    »Mitten im August?« staunte der Inspektor.
    »Ja, natürlich!« versicherte Méliès. »Emile? Sag dem Gerichtsmediziner, daß ich später vorbeischaue.« Mit bleichem Gesicht legte Jacques Méliès auf.
    »Laetitia Wells und ihre Ameisen überwintern.«
    »Wie bitte?«
    »Ja, das habe ich in Biologie gelernt. Wenn es kalt ist, wenn es regnet, wenn ihre Königin verschwunden ist, stellen die Insekten jegliche Aktivität ein und verlangsamen ihren Herzrhythmus bis hin zum Schlaf oder zum Tod.«
    Die beiden Männer rannten durch die Haftanstalt bis zur Zelle von Laetitia Wells. Sie waren schnell wieder beruhigt.
    Aus der Kehle der jungen Frau kam ein sanftes Schnurren.
    Méliès griff nach ihrem Handgelenk und stellte fest, daß der Puls … ein wenig langsam war. Er schüttelte sie, bis sie aufwachte.
    Laetitia öffnete ihre lila Augen einen Spaltbreit, schien Schwierigkeiten zu haben, sich zurechtzufinden, und erkannte erst allmählich den Kommissar. Lächelnd schlief sie wieder ein. Méliès zog es vor, vorläufig nicht auf die gemischten Gefühle zu achten, die ihn Umtrieben.
    Er wandte sich an den Gefängnisdirektor: »Morgen früh wird sie sicher ihr Frühstück verlangen, Sie werden schon sehen.
    Darauf wette ich.«
    Unter der dünnen Haut der Lider rollten die lila Augen nach links, rechts und von oben nach unten, als würden sie so besser den Bildern eines Traums folgen können. Es war sonderbar.
    Laetitia schien sich sozusagen in die Welt der Träume geflüchtet zu haben.

101. PROPAGANDA
    Na, das ist doch ganz einfach.
    So fängt Nr. 23 ihre Rede an. Sie hat sich neben Nr. 24 in die Höhle eines Sandsteinfelsens gestellt. Ihnen gegenüber steht eine Rotte von dreiunddreißig Ameisen. Sie hatten ihre Propagandaversammlungen erst innerhalb des Lagers abhalten wollen, aber dann klugerweise darauf verzichtet: dort drin haben die Wände Antennen.
    Nr. 23 richtet sich auf vier Beinen auf:
    Die Finger haben uns geschaffen und

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