Der Tag der Ameisen
flüchtet die Familie Dupeyron zum Auto.
Charles trägt seinen Sohn auf den Armen.
Nr. 9 ist rechtzeitig abgesprungen. Sie leckt an dem Fingerblut, das noch an ihrer rechten Schere klebt.
Von jetzt an wissen es alle.
Die Finger sind nicht unverwundbar. Man kann ihnen weh tun. Man kann sie mit Bienengift besiegen.
95. NICOLAS
Die Welt der Finger ist so schön, daß noch keine Ameise sie begreifen kann.
Die Welt der Finger ist so friedlich, daß Unruhe und Krieg aus ihr vertrieben wurden.
Die Welt der Finger ist so harmonisch, daß jeder darin in dauernder Verzückung lebt.
Wir besitzen Werkzeuge, die uns des Arbeitens entheben.
Wir besitzen Werkzeuge, dank derer wir uns mit hoher Geschwindigkeit im Raum bewegen können.
Wir besitzen Werkzeuge, durch die wir uns ohne die geringste Anstrengung ernähren können.
Wir können fliegen.
Wir können unter Wasser tauchen.
Wir können sogar diesen Planeten verlassen und über den Himmel hinaussteigen. Die Finger können alles, denn die Finger sind Götter.
Die Finger können alles, denn die Finger sind groß.
Die Finger können alles, denn die Finger sind mächtig.
Das ist die Wahrheit.
»Nicolas!«
Der Junge schaltete rasch die Maschine ab und tat so, als würde er in der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens lesen.
»Ja, Mama?«
Lucie Wells kam zu ihm. Sie war mager und schmächtig, aber ihr dunkler Blick wurde von einer fremden Kraft belebt.
»Du schläfst nicht? Es ist aber doch Zeit für unsere künstliche Nacht.«
»Weißt du, manchmal stehe ich auf, um in der Enzyklopädie zu lesen.«
Sie lächelte.
»Da hast du recht. Von diesem Buch kann man soviel lernen.« Sie faßte ihn an den Schultern. »Sag mal, Nicolas, hast du immer noch keine Lust, bei unseren telepathischen Runden mitzumachen?«
»Nein, nicht gleich. Ich weiß, daß ich noch nicht soweit bin.«
»Wenn du es bist, dann spürst du es ganz von selber. Zwinge dich nicht.«
Sie umarmte ihn fest und massierte ihm den Rücken. Er machte sich sanft los, immer unempfänglicher für diese Bezeugungen von Mutterliebe.
Sie hauchte ihm ins Ohr:
»Im Moment kannst du es nicht begreifen, aber eines Tages
…«
96. NR. 24 TUT, WAS SIE KANN
(IM RAHMEN IHRER MÖGLICHKEITEN)
Nr. 24 läuft, wie sie hofft, nach Südosten. Sie fragt alle Tiere, denen sie sich ohne allzu große Gefahr nähern kann.
Ob sie den Kreuzzug hätten vorbeiziehen sehen? Aber die Duftsprache der Ameise hat noch nicht den Status einer universellen Sprache. Ein Rosenkäfer behauptet jedoch gehört zu haben, die Belokanierinnen hätten sich eine Schlacht mit den Fingern geliefert und für sich entschieden.
Das ist unmöglich, denkt Nr. 24 sofort. Die Götter lassen sich nicht besiegen! Auf dem Weg fragt sie jedoch weiter und erfährt gerade genug, um sicherzugehen, daß es tatsächlich eine Auseinandersetzung gegeben hat. Aber unter welchen Umständen und mit welchem Ausgang?
Sie war nicht dabei. Sie hat ihre Götter nicht sehen dürfen.
Noch schlimmer: Sie hat ihnen den Kokon der Mission Merkur nicht übergeben können. Verflucht sei ihr Leichtsinn und ihr mangelhafter Orientierungssinn!
Sie bemerkt ein Wildschwein auf dem Weg. Das läuft bestimmt schneller als sie. Besessen von ihrem Wunsch, wieder zu ihren roten Schwestern zu kommen und, wer weiß, in die Nähe der Finger zu gelangen, krabbelt sie an seinem Bein hoch. Sie braucht nicht lang zu warten, schon rast das Wildschwein los. Das Problem ist nur, es drängt zu sehr in Richtung Norden. Sie muß im Lauf abspringen.
Sie hat Glück. Es taucht ein Eichhörnchen auf, in dessen Fell sie sich sogleich einnistet. Es läuft in Richtung Nordosten, doch der schnelle Nager bleibt plötzlich auf dem Gipfel eines Baums stehen, und Nr. 24 muß erneut abspringen, um so rasch wie möglich wieder auf den Boden zu kommen.
Sie hat zwar ein schönes Stück Weg zurückgelegt, ist aber immer noch allein. Sie fühlt sich schlecht dabei; sie muß wieder Selbstvertrauen gewinnen: Sie glaubt an die Finger, die allmächtigen Götter. Na schön, sie muß sie anrufen, damit sie sie zum Kreuzzug zurück und zu ihnen geleiten.
O ihr Götter, verlaßt mich nicht in dieser entsetzlichen Welt.
Macht, daß ich meine Schwestern wiederfinde.
Sie knickt die Antennen ein, als könnte sie dadurch besser in Kontakt zu ihren Meistern treten. In diesem Augenblick bemerkt sie hinter sich einen sehr vertrauten Geruch.
Du!
Nr. 24 ist vor Freude außer sich.
Beim
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