Der Tag der Rache. Private Berlin
ab, als die Nacht über Berlin hereinbrach. Die Temperatur war den ganzen Nachmittag über gestiegen, doch jetzt kam ein Wind auf. Als sie das Café Moskau erreichten, war der Wind zum Sturm geworden.
»D a sitzt er.« Dietrich ging langsamer und deutete auf einen Glaskasten mit Stahlrahmen, aus dem sanftes, silbriges Licht schien. »A ndere Seite der Theke mit dem Rücken zur Wand.«
Mattie spähte in die Bar Babette, eine der angesagtesten Berliner Kneipen im 1960er-Retrostil mit pseudokünstlerischem Publikum. Die Bar war zu dieser frühen Stunde kaum besucht, was den untersetzten alten Mann in grauem Anzug und dunklem Mantel hier noch unpassender aussehen ließ.
»L assen Sie mich reden«, sagte Dietrich und ging zur Tür.
Mattie folgte ihm und sah über seine Schulter hinweg, dass der Alte vor einem Glas Wodka saß. Er hatte ein kantiges, schlaffes, blasses Gesicht, unter seinen wachsamen Augen hingen faltige, dunkle Tränensäcke. Abwechselnd sah er Dietrich und Mattie an.
»W er ist diese Frau, Hans?«, fragte er.
»S ie heißt Mattie Engel, Willi«, antwortete Dietrich. »S ie war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin der Kriminalpolizei, aber wir haben ihr Talent vor ein paar Jahren an Private Berlin verloren. Sie arbeitet an demselben Fall.«
Der Alte nickte und streckte seine Hand aus. »S ie können mich Willi Fassbinder nennen. Das ist nicht mein echter Name, aber egal. Hans hat gesagt, Sie möchten über das Leben im Osten vor dem Mauerfall sprechen. Sind Sie neu in Berlin?«
»I ch bin in Westberlin aufgewachsen«, antwortete sie. »A ber um genauer zu sein, wir…«
»W ussten Sie, dass dies hier das kulturelle Zentrum war?«, unterbrach sie Fassbinder. »D er künstlerische und gesellschaftliche Mittelpunkt der DDR ?« Er deutete zum Fenster hinaus. »D ort im Kino International gegenüber wurden die großen Filme prämiert. Das Café Moskau war der berühmteste Club im Osten. Gleich nebenan war die Mokka-Milch-Eisbar, wo man das beste Eis in ganz Ostdeutschland bekam. Dort gab es den Eisbecher Pittiplatsch mit Schokostreuseln. Meine Tochter liebte ihn. Erinnerst du dich an die Eisbar, Hans? Es gab sogar ein Lied darüber. Es war ein großer Erfolg.«
»I ch erinnere mich an das Lied, aber ich war nie in dieser Bar«, erwiderte Dietrich.
»N ein?« Fassbinder wirkte überrascht und lächelte Mattie an. »U nd hier in diesem Gebäude befand sich der Kosmetiksalon Babette. Meine verstorbene Frau kam jeden zweiten Dienstag her, um sich die Haare und Nägel im neuesten Stil aus Moskau und Leningrad machen zu lassen.« Sein Gesicht bekam einen melancholischen Ausdruck. »D eswegen habe ich diesen Ort vorgeschlagen, als Hans mich bat, mit Ihnen über die Vergangenheit zu sprechen. Ich komme oft her und denke an damals.«
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Mattie und Dietrich bestellten bei der Kellnerin einen Espresso, Fassbinder nahm noch einen doppelten Wodka mit Eis.
»E igentlich wollten wir mit dir über Dinge und Ereignisse in Zusammenhang mit dem Ministerium für Staatssicherheit sprechen, Willi«, begann Dietrich schließlich. »D inge und Ereignisse, die dir mein Vater vor vielen Jahren vielleicht einmal spätabends am Telefon erzählt hat.«
Fassbinders Nasenflügel blähten sich, und Mattie spürte, wie er eine Mauer um sich herum errichtete. Sie bezweifelte, dass der Alte zu einer Zusammenarbeit bereit war.
»D ie meisten Berliner haben das hinter sich gelassen, Hans«, sagte Fassbinder spröde nach einem Moment des Schweigens. »S ie möchten nicht mehr über das Ministerium sprechen.«
»B itte, Willi. Ich habe versucht, mit meinem Vater darüber zu reden, als er starb. Seine Geheimnisse haben ihn umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Fassbinder entspannte sich etwas, und man sah ihm an, dass er über sein eigenes Schicksal nachdachte. »Ü ber welche Dinge?«, fragte er schließlich.
»Ü ber das Schlachthaus in Ahrensfelde und einen Mann namens Falk«, antwortete Mattie. »W ir glauben, er hat dort für die Stasi gearbeitet.«
Während die Kellnerin die Getränke auf den Tisch stellte, starrte Fassbinder regungslos ins Leere.
»H at Falk für die Stasi gearbeitet?«, fragte Dietrich, nachdem die Kellnerin gegangen war.
Fassbinder nahm einen großen Schluck von seinem Wodka und hustete. »N ein«, antwortete er. »J edenfalls nicht offiziell, und damit meine ich, ihr werdet weder in den speziellen Stasi-Akten noch in den Unterlagen vom Gefängnis Hohenschönhausen oder sonst wo eine
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