Der Tag der roten Nase
stattdessen schlug ich den Weg zum Markt ein, nachdem ich an der Haltestelle Hakaniemi aus der Straßenbahn gestiegen war. Die Pepsi-Uhr zeigte sechs Grad minus, und das merkte man dem Leben auf dem Markt auch an, die Leute redeten, ihre Atemwolken stiegen auf wie Sprechblasen, anscheinend riss die Kälte sie für eine Weile aus der schneematschigen Mürrischkeit des Helsinki-Frühwinters. Ich schlug den Weg unter der Uhr hindurch ein. Warten musste ich diesmal nicht, denn dort gab es eine Sprechanlage, aber im ersten Stock erschien Virtanen trotzmeines forschen Schellens an der Haustür irgendwie unwahrscheinlich überrascht und vorsichtig an der Wohnungstür, nachdem ich auch dort eine Weile geklingelt hatte. Er bat mich allerdings herein. Ich tat wie geheißen, stiefelte in Schuhen an den Tisch und sagte geradeheraus, es sei schön, ihn zu sehen. Es gelang ihm, sich auf einem Stuhl unterzubringen, und von dort schaute er mich mit wässrigen, geröteten Augen an. An seinem tastenden Blick konnte man erkennen, dass er geschlafen hatte und wahrscheinlich zwischen Klingeln unten und Klingeln oben noch einmal eingenickt war.
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Es tat weh, alles in Worte zu kleiden, es verwandelte sich sofort in eine andere Existenzform, aber daran war nichts zu ändern, ich musste mit jemandem reden. Er hörte mir mit schief gelegtem Kopf und zuckendem Augenwinkel zu und fing dann an zu lachen. Ich sah ihn an, wusste nicht einmal, wie, ich konnte unmöglich einschätzen, was für eine Gesichtsreaktion die Bestürzung über sein Lachen bei mir verursacht hatte. Dann wurde er aber doch irgendwie putzig schamhaft und lachte wieder. Etwas Warmes lag in seinem Hoho.
»Unsereiner besitzt also doch noch Stimmlippen«, sagte er dann und wurde ernst. »Also.«
Natürlich hätte ich auch gern gelacht, aber ich hatte keinen Grund dazu. Ich schaute aus dem Fenster auf den großen Innenhof. Zwischen den Häusern wirbelten inzwischen Schneeflocken umher. Virtanen schaufelte sein Telefon zwischen Papierstapeln und Haushaltsabfällen frei und scheuchte dabei drei Fruchtfliegen aus einem Stück Mandarinenschale auf. Ich kramte mein Handy aus der Handtasche und legte es nach kurzem Tippen vor ihn hin, denn aus lauter Schuldgefühlhatte ich mir inzwischen längst die Nummer der Mäkiläs aus dem Netz besorgt, und Virtanen hackte nun die Zahlenfolge, die ich ihm hinhielt, in seinen trotz aller Eckigkeit stromlinienförmig abgegriffenen altersschwachen Kommunikationsapparat. Dann hielt er sich den Hörer ans Ohr und zwinkerte mir so unbeholfen zu, wie es nur so ein unsicherer Katerheini fertigbringt, und lächelte dazu schelmisch, als hätte er gerade einen gigantischen Witz gerissen. Ich ließ ihn in seinem Glauben und verkrampfte meinerseits den Lippenbereich.
Ich muss sagen, dass er seine Aufgabe gut erfüllte. Nach den Hallos kam er freundlich, aber bestimmt zur Sache, trug vor, eine Mitarbeiterin seiner Firma sei am vorigen Samstag da gewesen und habe im Nachhinein die Befürchtung gehegt, sich in einer schwierigen Situation taktlos verhalten zu haben; das tue der betreffenden Mitarbeiterin zutiefst leid, und die ganze Firma wolle nun ihr Bedauern sowie ihre Anteilnahme in Form eines bescheidenen Blumengrußes zum Ausdruck bringen und so weiter; nein, nein, nicht ans Bestattungsinstitut, auf keinen Fall, in so einem wichtigen Fall schicken wir einen Wagen direkt zur Friedhofskapelle, nein, nein, das macht keine Umstände, im Gegenteil, genau, ja, das haben wir uns auch gedacht, eben, danke, danke, vielen herzlichen Dank und entschuldigen Sie die Störung und noch einmal mein Beileid und viel Kraft für Sie, auf Wiederhören, ja, Wiederhören.
Er knöpfelte das Handy aus und kritzelte mit einem halb eingetrockneten Kugelschreiber Zeichen auf die Ecke einer Zeitung, die übrigens die gleiche Publikation aus Kerava zu sein schien, in der ich als Nachricht erschienen war. Ich sah ihn an und war sprachlos: Es war kaum zu fassen, dass in einem Säufer, der sich kurz vor dem Zerfallsdatum befand, so eineschönrednerische Quasselstrippe steckte. Fast hätte ich Lust gehabt, ihn zu umarmen, aber er hatte eindeutig dieselben Klamotten am Leib wie bei meinem ersten Besuch vor etlichen Wochen.
Ich dankte ihm von ganzem Herzen.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte er. Dann riss er die Ecke aus der Zeitung und reichte sie mir. Darauf hatte er Ort, Datum und Uhrzeit notiert, und zwar mit so zittrigen Zeichen,
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